Löwenzahnblüten

So ein Umzug konnte alles verdrehen und verderben, das hatte Natalie in ihrem Leben schon fünfmal erfahren müssen, alle zwei Jahre einmal, immer, wenn die Bundeswehr ihre Mama wieder anderswohin versetzte; zwei Jahre – das war der Normalfall beim Generalstab. Nicht einmal die Sprache stimmte dann mehr, und das nicht nur, wenn der Umzug mal wieder ins Ausland führte, nach Amsterdam, nach Paris oder  Washington, das galt auch für Stuttgart oder Köln.

Pissnelken sagten sie hier im Rheinischen zu den Milchlingen, die sie von Stuttgart her kannte, es schüttelte Natalie, wenn sie es hörte. Pissebloem, sagten sie in Amsterdam, und auch das fand das Mädchen abstoßend. In Paris waren es die Pissenlits gewesen, manger les pissenlits par la racine,  die Veilchen von unten riechen, auf der anderen Seite des Seins.

Natalie spürte wieder, wie das Weinen in ihr hochkroch, aus dem Brustkorb in den Hals, in den Hinterkopf, in die Ohren, hinter die Stirn, bis es vor den Augen haltmachte, die Tränen stauend wie einen Wasserfall an einem Wehr, manger les pissenlits par la racine, wie der Papa es seit zweieinhalb Jahren tat, der Papa, der immer mitgekommen war, von Ort zu Ort, der seine Musik von überallher hatte komponieren können, der jeden Tag eine andere Melodie auf den Lippen führte, der Natalie über alles Unverständliche und Fremdartige hinwegtröstete, der den Kuchen mit Pudding mischte, wenn er Mama zu krümelig geriet, der jedes Mittagessen essbar machte, das Natalie und Mama versalzten oder verkochten, der Papa, der jetzt in Paris in einem Urnengrab wohnte, per manger les pissenlits par la racine, wie Madame Bertrand und Monsieur Lefebvre es abfällig nannten, weil sie nicht wussten, dass Natalie zuhörte und sie verstand, und weil sie Papa und sein Trompetenspiel nie hatten leiden können.

Pissnelken – wie konnte man die sonnengelben Milchlinge so nennen? Für Natalie kündigten sie den Frühling an, zackten mit ihren dunkelgrünen Blättern freche Inselchen aus dem langweiligen Rasen, trugen als Pusteblumen auf ihren weißen Fallschirmchen die Beschwingtheit der erwachenden Natur in himmelblaue Tage.

„Was stehst du hier im Weg herum, du Pissnelke, du ausländische“, bellte hinter ihr eine heisere Stimme, „verzieh dich, oder ich brat dir eine über!“

Natalie versuchte, den Strauß Löwenzahnblüten in ihrer rechten Hand mit der linken zu schützen, aber der Junge, der sie verfolgte, scherte sich nicht darum und schlug ihr die Blumen aus der Hand, sodass sie auf den staubigen Asphalt fielen, wo er mit seinen schweren Stiefeln darauf herumtrampelte, bis sie aussahen wie ein Häufchen gelbgrüner Matsch.

 

(Mit einem Dankeschön an Christiane für ihre Einladung zu den abc-Etüden, diesmal die mit den Wörtern „Pissnelke“, „krümelig“, „verdrehen“, die wie immer in maximal 10 Sätzen unterzubringen waren. Sie stammen diesmal übrigens von Bettina.)

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Über Elke H. Speidel

ist Publizistin und Soziologin und arbeitet als Fachautorin, gelegentlich auch als Schriftstellerin, Lebenswegberaterin oder Wissenschaftslektorin.

Veröffentlicht am 22. November 2017 in Allgemein, Kürzestgeschichten, Realismus und mit , , , , , , getaggt. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. 11 Kommentare.

  1. Ganz ehrlich? Ich finde, besser geht’s nicht. Vielen Dank dafür.
    Liebe Grüße
    Christiane

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  2. Sehr schön und einfühlsam, Elke. Es ist hoffentlich nicht so wichtig, dass ich die französischen Satzteile nicht verstehe.

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  3. Nein, das ist völlig unwichtig. Die einzig wichtige Übersetzung findest du im Text: „Die Veilchen von unten riechen“. Ansonsten sind es nur Übersetzungen des Begriffs „Pissnelke“, der unter anderem ein Synonym für „Löwenzahn“ ist, und zwar schlicht, weil er als Harntreiber eingesetzt werden kann.

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    • manger heißt essen. „Die Veilchen von der Wurzel essen“ wäre die korrekte Übersetzung. Aber was macht das schon, für das Mädchen ist es schon egal. Du hast eine ganz wunderbare Geschichte geschrieben, Elke, ich fühle den Stiefel des Jungen, wie er die Blumen zermalmt, in meinem Herzen. Und erinnere mich an ein Erlebnis als Kind: meine Schwester fand ein Rotkehlchennest in der Hecke und bewunderte es täglich, vorsichtig durch die Zweige lugend. Ein Nachbarsjunge beobachtete sie dabei, riss das Nest heraus, sah meiner entsetzten Schwester fest in die Augen und zertrat das Nest mit dem Hacken seines Schuhs.
      Dieser Junge, Flüchtlingskind, wurde, so raunte man, vom Alkoholiker-Vater mit dem Ochsenziemer erzogen.

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      • Nein, die Geschichte gefällt mir nicht, aber dein Kommentar gefällt mir wohl. Und ja, klar heißt „manger“ essen, aber das Pendant zu dem Spruch lautet auf Deutsch eben nicht „die Veilchen von unten essen“, daher habe ich es etwas freier übersetzt. Aber danke für die Präzisierung! Ja, auch bei den „Täterkindern“ muss man genauer hinsehen. Auch da gibt es meist (Hinter-)Gründe, die wehtun.

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  4. Eine wirklich berührende Geschichte, liebe Elke und auch zum November passend.

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  5. Danke für deinen Kommentar. Heute ist der November hier recht sonnig, aber ja, sonst passt es zum Monat und zu der Stimmung, die er verbreitet, mit all den Totengedenktagen.

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  6. Ich halte es mit Christiane: Besser geht eigentlich nicht. Toll!

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  7. Ein meisterlicher Text.
    Toll auch der kleine Nebenaspekt, dass die FRAU im Generalsstab der Bundeswehr ist.
    Kanntest du die Bedeutung von Pissnelke? Mich hatte sie total überrascht. Pissenlit inkl wörtlicher Bedeutung dagegen ist komischerweise Bestandteil meiner marginalen Französischkenntnisse, möglicherweise aus einem Botanikbuch gelernt.

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