Archiv für den Monat Juli 2018
Aprilgewitter
In dem braunen Kleid mit den weiten Ärmeln sah Serena einer Fledermaus zum Verwechseln ähnlich, fand Stefan. Ohnehin war sie ein Wesen der Nacht, aber kein Glitzerwesen, eher eines, das sich in dunklen Torbögen unsichtbar machte. Und das war auch besser so, für alle Beteiligten.
Denn Serena war nach Stefans Meinung alles andere als eine Schönheit, und wenn sie den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, wurde der Eindruck nicht besser, sondern viel, viel schlechter. Es war, als könne sie keine drei sinnvoll zusammenhängenden Wörter von sich geben.
Wie schwül es heute war! Und das im April! Bestimmt würde es nachher noch ein Gewitter geben.
„Aber ich werde den Teufel tun, das Serena zu verraten“, sagte Stefan zu seinem Freund Martin mit einem schrägen Blick auf die unscheinbare Frau vor ihnen, die bitte unscheinbar bleiben sollte.
Gewitter jedoch machten aus der stillen Serena ein Aschenbrödel in goldenen Schuhen, das im Regen tanzte und gegen den Donner ansang mit der beeindruckenden Stimmkraft einer Opernsängerin – die sie auch war.
(Für die Textwoche 28.18 hat Natalie aus dem Fundevogelnest die drei Wörter Fledermaus, schwül und verraten gespendet, die wie immer auf Einladung von Christiane in maximal 10 Sätze zu packen waren.)
Sprachgesetze
Wenn es Gesetze gegeben hätte, Gesetze, die bestimmten, welche Wörter man sagen durfte, und welche nicht, dann wäre alles einfach gewesen. Vorausgesetzt, die Sprachpolizei, die der Große Diktator als Unterbereich der Staatssicherheitspolizei gegründet hatte, hätte sich an diese Gesetze gehalten.
Im Grunde gab es sogar Gesetze (oder Verordnungen, das wusste sie nicht so genau), die bestimmten, dass in ihren muttersprachlichen Zeitungen die alten Ortsnamen nicht mehr genannt werden durften, weil nur noch die Landessprache zulässig war. Es war lächerlich – die Namen von Flüssen und Bergen durften noch verwendet werden, sodass die Leute von der Zeitung darauf ausweichen konnten, die „Stadt am Fluss X oder unter dem Berg Y“ zu schreiben. Aber über diese Gesetze hinaus war nicht viel festgelegt, was gesagt und was verschwiegen werden durfte oder musste.
Dass der Große Diktator der geliebteste Sohn des Volkes war, stand natürlich außer Frage. Dörfer und jahrhundertealte Kirchenburgen schleifen zu lassen war ein Akt des Fortschritts, und sicherlich würde es der Sprachpolizei nicht gefallen, diese Absicht „verroht“ oder „barbarisch“ zu nennen, aber gab es ein Gesetz, dass die Verwendung der entsprechenden Begriffe untersagte?
Sie kaute am Griff ihrer Füllfeder und überlegte die nächste Zeile des Loblieds auf die Allesbeherrschende Partei, an dem sie gerade schrieb, für die Jugendseite der muttersprachlichen Wochenzeitung, die diesmal von ihrem Lyzeum gestaltet wurde. Irgendwas Verherrlichendes musste es sein, etwas Hehres und Stolzes, etwas Patriotisches und Heimatliebendes.
Ihr einziger Trost bestand darin, dass auch dieser Spuk einmal vergehen würde, für sie persönlich spätestens, wenn sie nicht mehr am Leben wäre.
(Für die Textwoche 27.18 hat Werner Kastens die drei Wörter Sprachpolizei, verroht und vergehen gespendet, die wie immer auf Einladung von Christiane in maximal 10 Sätze zu packen waren.)