Archiv für den Monat Oktober 2018
Firmennachfolge
„Der hat sich seine Pfründe gesichert“, murmelte Wolfgang, Justiziar und Testamentsvollstrecker der AS Messgeräte GmbH & Co. KG München. Er speicherte die Dateien, die er zuletzt heruntergeladen hatte, auf seinem Stick, fuhr das Betriebssystem des Firmenrechners hinunter und schaltete den Computer aus.
„Sagten Sie etwas, Herr Doktor Sauer?“, fragte die alte Dame, die als Sekretärin für Andreas Schullerus, den verstorbenen Firmenchef, gearbeitet hatte, und fingerte nach einer Zigarette.
„Lassen Sie die Zigarette in der Schachtel“, zischte Wolfgang sie an.
„Als Herr Schullerus noch lebte“ … 92 Jahre alt war er gewesen, der alte Fuchs, als er starb.
„Zigarette in die Schachtel“, wiederholte Wolfgang. „Und bringen Sie den Hund weg. In diesem Büro brauche ich keine Kuscheltiere.“
Die Frau fasste den Zwergpudel am strassbesetzten Halsband und steckte ihr Zigarettenetui in eine teuer aussehende Lederhandtasche, ehe sie ging.
„In fünf Minuten sind Sie wieder hier, Frau Petrescu. Allein.“ Wolfgang erhob sich ohne die elektrische Aufstehhilfe des mondänen Bürosessels, den Schullerus sich gegönnt hatte, und humpelte zum bodentiefen Fenster.
Verdammte Beinprothese!
Der Blick auf die Münchner City war von hier aus unschlagbar, aber die Häuser und Parks blieben heute in den gleichen Nebel gehüllt wie die Geschäftsprozesse der AS Messgeräte GmbH & Co. KG. Woher das Geld kam, das Schullerus einnahm, wohin er es fließen ließ, hatte der Justiziar eben entdeckt. Großlieferungen nach Libyen, Somalia, Sudan … Überweisungen in die Schweiz. Den Erben musste Wolfgang noch finden: einen gewissen Uwe Schneider.
Es gab Tausende davon. Es war sicher nicht der Uwe.
An der Wand gegenüber dem Schreibtisch, hinter einer verspiegelten Mahagonitür, befanden sich jede Menge teure Alkoholika. Wolfgang würde sie wegschütten lassen. Flüchtig nahm er das eigene Gesicht im Schrankspiegel wahr, die Brandnarben auf Wangen und Stirn, die dunkle Brille. Er fasste mit der linken Hand an den rechten – künstlichen – Ellbogen.
Verdammter Phantomschmerz!
(Zweite Geschichte nach den neuen Regeln für die abc-Etüden von Christiane: Nicht mehr 3 Wörter in 10 Sätzen sind zu einer Geschichte zu verbinden, die Drei-Impulswort-Geschichte muss jetzt maximal 300 Wörter lang sein. Außerdem sind die Impulswörter jetzt nicht mehr eine Woche lang gültig, sondern zwei Wochen lang. Sie lauten diesmal Pfründe, mondän und lassen und wurden gespendet von Bernd. Danke euch beiden für die Anregung!)
Kekstorte für Eine
65 Jahre.
Codruţa betrachtete die Hände auf der Tastatur ihres Laptops. Die Sonne hatte die oberen Hautteile gebräunt, und wenn sie die Fäuste ballte und die Haut dadurch straffte, liefen hellere Querstreifen über den Handballen. Waren die Pigmentpunkte in diesem Sommer zahlreicher geworden? Trotz der Lichtschutzcreme, die Codruţa auf Empfehlung ihrer Hausärztin skrupulös genutzt hatte?
Wann war Codruţa 60 geworden?
An einem Tag, der genauso verlaufen war wie alle anderen Tage. Ein Tag ohne Feier. Ohne Freunde und Freundinnen, ohne Verwandte und Bekannte, ein Tag, der sich aus Morgen, Mittag und Abend zusammensetzte und in der Nacht zerrann. Herbert-Mama war tot, die Todesanzeige kam einen Tag vor dem Geburtstag an, der Kontakt zur Pflegefamilie, den Herbert-Geschwistern und ihren Angehörigen, war seit ewig abgerissen. Deutschland war weit weg.
Vor fünf Jahren war das gewesen, Codruţas 60. Geburtstag. Heute vor fünf Jahren.
Warum hätte sie den 65. Geburtstag feiern sollen, wenn der 60., immerhin ein runder, niemandem etwas bedeutet hatte, nicht einmal ihr selbst?
Warum hatte sie sich heute eine Kekstorte zubereitet, aus gewässerten Butterkeksen und Nougatcreme, nicht wie damals, als Mămică noch lebte, aus rumgetränkten Bruchkeksen und mühsam gekochter Kakaocreme? Niemand außer ihr selbst würde in den Genuss der Torte kommen.
Ob Tăticu noch irgendwo lebte? Sie hatte keinen Kontakt zu ihm, seit er Tanti Rodica geheiratet hatte. Seit 60 Jahren.
Wenn es Bernd noch gäbe, den Jungen, der sie vor 50 Jahren geküsst hatte … Wenn Uwe da wäre, ihr Mann, der vor 43 Jahren nach Deutschland gefahren war, mit ihrem gemeinsamen Baby Marcela, ohne je zurückzukommen … Dann wäre sie für irgendwen noch Codruţa statt Frau Schneider. Und vielleicht „Oma“ für Marcelas Kinder.
Vorbei.
Codruţa seufzte, strich sich eine eisgraue Haarsträhne nach hinten, klappte den Laptop zu und holte ein Messer, um die Kekstorte in schiefe Scheiben zu schneiden.
(Es gibt neue Regeln für die abc-Etüden von Christiane: Nicht mehr 3 Wörter in 10 Sätzen sind zu einer Geschichte zu verbinden, die Drei-Impulswort-Geschichte muss jetzt maximal 300 Wörter lang sein. Außerdem sind die Impulswörter jetzt nicht mehr eine Woche lang gültig, sondern zwei Wochen lang. Sie lauten diesmal Genuss, skrupulös und schneiden und wurden gespendet von Gerda Kazakou. Danke euch beiden für die Anregung!)