Novemberschnee
Ihre Unbehaustheit hatte Codruta im Sommer nichts ausgemacht. Unbehaustheit – das Wort gefiel ihr besser als Obdachlosigkeit, und es passte auch besser auf ihre Situation, fand sie. Sie wohnte in Mihaelas Gästezimmer, das deren Mutter und Schwester vielleicht nie brauchen würden. Und im Winter hoffte sie, als Haushüterin unterzukommen, im Haus von Schuster-János, der mit seiner Frau, wie jeden Winter, in seiner Nürnberger Sozialwohnung leben würde. Das hatte im letzten Winter auch geklappt. Und im vorletzten.
Dann, Ende August, als es so heiß war, dass sie Mihaelas neue Klimaanlage zu schätzen wusste (Mihaela war wirklich reich!), hatte sie vom Verkauf des Schuster-Hauses erfahren. Die Schusters waren alt, 85 und 92, sagte der Kurator der Kirchengemeinde. Sie konnten nicht mehr herkommen, um sommers in ihrem Haus zu wohnen. Ein Ehepaar aus Bukarest habe 15.000 Euro dafür gezahlt, einen Spottpreis, meinte der Kurator.
Ein Vermögen. Codruta sagte es nicht. Kein Winterquartier mehr. Aber noch war Sommer. Kein Grund, schwermütig zu werden! Es gab viele Häuser, die leer standen, natürlich, wie in den meisten Dörfern, aus denen die ehemals hier ansässigen Familien ausgereist waren. Aber niemand benötigte eine Haushüterin. Auch nicht im Nachbardorf, das Codruta per Bus aufsuchte (ihre Arthritis machte ihr zu schaffen). Der Versuch, nach einer kostenlosen Winterbleibe zu haschen, war fehlgeschlagen.
Ende Oktober, die Sommerhitze war Nieselregen gewichen, erfuhr Codruta, dass Mihaelas Familie aus Berlin hierher ziehen würde, nicht nur für den Winter wie sonst. Eine Eigenbedarfskündigung. In Berlin gab es keine Wohnungen, die Mihaelas Mama von der Sozialhilfe bezahlen konnte. „Und ich habe auch nicht so viel Geld“, sagte Mihaela. Vielleicht war sie doch nicht wirklich reich.
Morgen nun – morgen würde Dezember sein – sollten Mihaelas Verwandte ankommen. Codruta wärmte ihren wehen Rücken am Kachelofen. Ab morgen war Unbehaustheit ein Synonym für Obdachlosigkeit.
Draußen ging der Nieselregen in Schneegestöber über.
(Aktuelle Kürzestgeschichte der abc-Etüden, die dritte: Die Schlüsselwörter für den obigen Text kommen von Bernd. Seine drei Begriffe lauten: Unbehaustheit, schwermütig, haschen. Sie waren wie immer in maximal 300 Wörtern zu verarbeiten. Danke, Bernd und Christiane, für den Anstoß!)
Veröffentlicht am 30. November 2019 in Allgemein, Kürzestgeschichten, Realismus, Romanfragmente und mit Alter, Angst, Armut, Depression, Krankheit, Migration, Obdachlosigkeit, Schnee, Winter getaggt. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. 10 Kommentare.
Oh je, ich wünsche ihr von ganzem Herzen, dass ein Wunder passiert. Schrecklich!!!! Traurig!!!! Real – leider. Und sehr gut geschrieben!
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Ja, leider real. Die Namen der Personen und Orte sind verändert. Die Story ist (hoffentlich ausreichend) verfremdet und verwebt mehrere vergleichbare Situationen zu einer einzigen, die Sachlage an sich stimmt jedoch.
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Wenn sie Pech hat (oder Glück, wer weiß das), wird sie in der ersten kalten Nacht draußen erfrieren, weil sie nicht weiß, wie man bei dem Wetter klarkommt. Ähnliche Umstände könnten auch hierzulande Realität sein, ich habe gelesen, dass wohnungslose Frauen häufiger auf irgendwelchen Sofas bei irgendwem zu finden sind als auf Straßen …
Verdammt. Und Gründe für ein solches Schicksal gibt es so furchtbar viele.
Liebe Grüße
Christiane
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Ja, vielleicht wäre es eher „Glück“ als Pech.
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Sehr traurig, wie sich die Wohnungsnot hier als Verdrängung auswirkt bis in ferne Ecken Europas.
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Ja. Armut macht nicht an Grenzen Halt.
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Eine Unbehauste. mich friert. Hier in Griechenland kenne ich etliche alleinstehende Deutsche, die Häuser hüten im Winter, wenn die Besitzer nicht da sind. Vielleicht ist das was für sie?
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Ja, solche Gelegenheiten gibt es. Ist nur ein bisschen so wie mit dem Zuviel an Essen bei einer konkreten Mahlzeit, das nur schwer bis gar nicht mit den Hungernden dieser Welt zusammengebracht werden kann.
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Ja, das dachte ich auch, als ich es schrieb. Wie kommen zwei Suchende zusammen? Der eine, der ein Haus hat, für das er im Winter einen Bewohner sucht, und der andere, der ein Dach überm Kopf sucht. Viellleicht wäre das eine Idee: eine private Agentur wie ein Suchdienst. eine Website mit Angebot und Nachfrage. .
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