Und wenn schon!

Es war nicht die Sonne, die Codrutas Haar letztlich doch gebleicht hatte. Und nein, blond geworden war es davon nicht, und silbrig schimmernde Locken würden auch nie daraus werden. Eher sahen die Strähnen aus wie schmutziger Schnee auf einem Feldweg im Frühling, fahles Grau in glanzlosem Schwarz.

Die alt werdende Frau betrachtete sich nachdenklich im spiegelnden Schaufenster des Ladens, der irgendwann in den letzten drei Wochen eröffnet worden sein musste, als sie in der Sommerküche von Erzsébet gegen ihre Grippe ankämpfte. Erzsébet war alt, mindestens neunzig, und nein, sooo alt war Codruta noch nicht. Sah man ihr das an? Dass sie dreißig Jahre jünger war als Erzsébet?

Die Grippe hatte weitere Falten in Codrutas hageres Gesicht gegraben. Neue Altersflecken schienen sich auf ihren Handflächen auszubreiten. Codruta wollte nicht überlegen, ob das auf Hautkrebs hinwies. Grübeln hatte noch nie jemandem geholfen.

Sie war eine harte Frau, hart im Nehmen, „stark“, sagten manche, „eiskalt“ fanden andere ihre Art. Vielleicht, weil es ihr nicht lag, „süße“ Tierlein auf den Schoß zu holen oder fremder Leute Babys zu knuddeln. Ihre eigene Tochter hatte sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Ob sie Kinder hatte?

***

„Knuddeln“. Was für ein idiotisches Wort. So doof wie „Frauchen“ oder „Gassi gehen“. Codruta hasste Verniedlichungen. Sie hasste Erzsébets Zwergspitz und sein widerliches Gebell, sein weißes „Fellchen“, die „Leckerlis“, die Erzsébet ihm immer zusteckte. Sie hasste auch Erzsébets „Miezekatze“ (– miez-miez! – Jere ide (komm her)!).

Seit ihre Mutter – Mamica – gestorben war, verabscheute Codruta die Viecher, diese ekligen Wesen, die mit ihren Knopfaugen alle Menschen verrückt machten.

Viecher wie den Zwergspitz Fifirica und die Siamkatze Miuta, die ihr Vater und ihre Stiefmutter mitnahmen, als sie Codruta bei der Nachbarin zurückließen.

Weil Codrutas Haar nicht so blond war wie das ihrer Stiefmutter? ihre Augen nicht so katzengrün?

***

Pfff. Und wenn schon.

(Danke an Christiane, die diese abc-Etüden betreut, und an Alice, die diesmal die Reizwörter – Grippe, gebleicht, knuddeln– gespendet hat. Wie immer waren die 3 Begriffe in maximal 300 Wörtern zu einem sinnvollen Text zu verbinden.)

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Über Elke H. Speidel

ist Publizistin und Soziologin und arbeitet als Fachautorin, gelegentlich auch als Schriftstellerin, Lebenswegberaterin oder Wissenschaftslektorin.

Veröffentlicht am 2. Februar 2020 in Allgemein, Kürzestgeschichten, Realismus, Romanfragmente und mit , , , , , , , getaggt. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. 18 Kommentare.

  1. Die Beschreibung der Haarfarbe hat mich sofort überzeugt, von allem, was noch kommen konnte, und die Beschreibung der Codruta entspricht dem bis zum letzten Satz hin so ganz genau, mit dem „schmutzigen Schnee“ auch in der Seele.

    Gefällt 4 Personen

  2. Das ist wirklich aus dem Leben erzählt, so wahr und tiefgründig, so vielseitig und großartig in der Sprache. Ich finde, das ist große Dichtung. Da ist nichts Falsches. Es ist alles echt. Man muß ja nicht alles mögen. Aber verstehen und verzeihen kann man das meiste. Diese Frau steht als Charakter deutlich vor uns, und wir sollten sie nicht allein lassen, sondern ihr Antwort geben, damit sie den Sinn ihres Lebens begreift.

    Gefällt 3 Personen

    • Freut mich, wenn dir der Text gefallen hat. Die Frau, ich sagte es schon, ist selbstverständlich reine Fiktion.

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      • Na, wer so etwas schreiben kann, hat sicher auch etwas ähnliches erlebt.

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      • Ich habe meine soziologische Magisterarbeit in siebenbürgischen Dörfern recherchiert, mehrere Jahre lang war ich jeden Sommer dort und habe ungezählte Leute interviewt. Und nein, liebe Gisela, die Frau hat kein reales Vorbild, aber die Stimmung und die Atmosphäre, hoffe ich, konnte ich glaubhaft schildern.

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      • Danke, so erfahre ich also etwas über eine soziologische Magisterarbeit in Siebenbürgen und über unzählige Interviews. Daher also diese Menschenkenntnis und großartige Sprachbegabung, aber auch das Einfühlungsvermögen in solche extremen Lebensverhältnisse.

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  3. Oha. Da steckt sie ihr ganzes Leben in dem Hass fest, nicht gut genug gewesen zu sein, geliebt zu werden – aber die Viecher waren es. Und sie selbst (und alle um sie herum) müssen es ausbaden. Was für ein Sch…
    Schlimm.
    Liebe Grüße, schönen Sonntag
    Christiane 😁🐱☕👍

    Gefällt 4 Personen

    • Ja, psychische Grausamkeit kann von Generation zu Generation weitergegeben werden, leider. Zum Glück gibt es auch Fälle, in denen der Teufelskreis durchbrochen werden kann. Mein Großvater zum Beispiel, selbst ein misshandeltes Kind, hat sich erfolgreich darum bemüht, seine Kinder ohne physische und psychische Grausamkeiten zu erziehen – und auch damit kann man eine generationenübergreifende Verhaltensweise in Gang setzen. Aber dafür muss man stark sein. NICHT hart.

      Gefällt 4 Personen

  4. Codruta ist ein rumänischer Name: „Die kleine vom Wald“, soweit Wikipedia und die anderen Namen.
    Codruta: groß geworden auf einem Aussiedlerhof im rumänischen Wald, fernab der Zivilisation, nicht merkend, wenn neue Läden aufmachen? Dann könnte ich mir eine solche Erziehung unter harten Bedingungen vorstellen.

    Sehr schön die vorgegebenen Worte eingebaut!

    Gefällt 2 Personen

  5. Eine nachdenklich machende Betrachtung, klingt bitter und müde. Manche Menschen verschließen ihr Herz. Gut geschrieben.
    Liebe Grüße
    Alice

    Gefällt 5 Personen

  1. Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 08.09.20 | Wortspende von BerlinAutor | Irgendwas ist immer

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