Das Apartmenthaus
Im letzten Jahr hatte die Nachbarin Zetermordio geschrien, ehe die Polizei kam. Und der Krankenwagen. Und schließlich das Fahrzeug des Bestattungsunternehmens. Ihr Geschrei hatte die Böller übertönt, das Grölen der Jugendlichen vor dem Apartmenthaus, den Gesang der Betrunkenen von den Balkonen. Herr Hamsterbacke hatte, weichmütig, wie er war, den Notruf selbst abgesetzt. Mit dem brutalen Lebenspartner der Nachbarin mochte er sich nicht anlegen. Herr Hamsterbacke war nicht lebensmüde, trotz seiner Schmerzen und des Rollstuhls.
In diesem Jahr war es still in der Nachbarwohnung. Sie stand seit zwölf Monaten leer. Niemand wollte sie haben, trotz der Wohnungsnot. Obwohl es Blödsinn war zu glauben, dass die Geister der Frau und ihrer Zwillinge darin herumspukten. Die Geräusche, die durch die Wand schnitten, waren anderen Ursprungs, sagte sich Herr Hamsterbacke jede Nacht. Er wollte nicht weg aus dem Apartmenthaus, das er seit über siebzig Jahren bewohnte. Nicht wie Frau Popescu aus dem Dachgeschoss, nicht wie Familie Popovic aus dem Souterrain, nicht wie die zwei Jungs, deren Namen er weder aussprechen noch sich merken konnte. Liebe Jungs, höflich, hilfsbereit. Manchmal hatten sie ihn besucht, um mit ihm einen Kuchen zu backen. Jetzt kamen sie nicht mehr, wohnten weiß-Gott-wo, am anderen Ende der Stadt oder der Welt.
Kein Mensch kam mehr außer dem Pfleger, der jetzt sein Gesicht hinter der Maske verstecken musste, was kein Verlust war. Nie hatte Herr Hamsterbacke den Mann lächeln sehen. Vermutlich hatte er nichts, das ihm ein Lächeln hätte entlocken können. Schon gar nicht jetzt, in der Pandemie.
Herr Hamsterbacke war dankbar, dass weder er noch sein Pfleger sich bisher angesteckt hatten. Und dass der Silvester diesmal ruhig sein würde. Schon um halb zehn hievte er sich aus dem Rollstuhl ins Bett und erwachte um Mitternacht nicht.
Auch nicht danach.
Nie mehr.
Endlich war das Apartmenthaus leer und ließ sich verkaufen.
(Die Wörter für die Textwochen 01/02 des Jahres 2021 stiftete Ludwig Zeidler. Sie lauten: Zetermordio, weichmütig, backen. Zu verarbeiten waren diese 3 Begriffe auf Einladung von Christiane in maximal 300 Wörtern. Danke für die Einladung und die Wortspende!)
Veröffentlicht am 4. Januar 2021 in Allgemein, Kürzestgeschichten, Realismus und mit Alter, Bestattung, Krankenwagen, Spuk, Tod, Wohnungsnot getaggt. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. 20 Kommentare.
Liebe Elke, was für eine Freude, dass du wieder bei den Etüden mitschreibst! Viel zu lange habe ich nichts von dir gelesen und dich immer nur mal kurz durch die Blogs huschen sehen …
Wir hatten so einen Schluss, der nahelegt, dass bei dem Todesfall nachgeholfen wurde, bei den Adventüden, daher bin ich jetzt nicht so überrascht bzw. erschrocken, wie ich bei dem Gedanken sonst vermutlich wäre. Sehr gekonnt geschrieben, deine Etüde, und eine Freude zu lesen!
Sei ganz herzlich gegrüßt
Christiane 😀
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Die Ernsthaftigkeit berührt, die Gegensätze zwischen Laut und Leise auch. Sie ist etwas Besonderes unter den bisher gelesenen neuen Etüden.
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Danke für deine freundliche Meinung.
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Das ehrt mich.
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Vielen Dank für diese wunderbaren Zeilen.
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Freut mich, wenn sie dir gefallen.
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Kurz mußte mein soziocerebrales Eckchen überlegen, ob es aufgrund der Tatsache, daß der bisherige Verkaufshinderungsgrund des Hauses wegfiel, erschrocken und bestürzt sein müßte – das Resthirn entschied jedoch -im Einvernehmen mit den zuständigen Synapsen- daß es keinen Grund zur Besorgnis gibt: Herr Hamsterbacke durfte unbemüht ausleben, einem Verkauf steht somit kein menschliches Schicksal mehr entgegen. Ja – so geht’s, so friktionsfrei geht es nicht immer; dem Leben ist ein positiver Auftakt in einem Neuen Jahr gelungen.
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Ja, nach siebzig Jahren im selben Haus mag es eine Gnade sein, in der Silvesternacht ans andere Ufer der Doppelwelt von Tod und Leben zu wechseln.
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Doppelwelt ist eine interessante Beobachtung.
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Eine Gruselgeschichte, entsprechend der 3 gegebenen Wörter.
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Ja, die drei Wörter legten es nahe.
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Das stimmt. Ein frohes neues Jahr wünsche ich noch!😊
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Beim Lesen wurde mir so unangenehm kalt, angesichts der abschließenden Sätze.
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Nun, die Geschichte spielt in der Silvesternacht. Die ist üblicherweise in unseren Breitengraden nicht sehr warm.
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ich meinte ja auch innerlich weil er danach nie wieder aufwacht.
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Schon verstanden. Ich hatte es versäumt offenzulegen, dass ich im Ironiemodus geantwortet habe. Sorry für diesen Lapsus.
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So gruselig eine schreien zu hören und nichts tun zu können, wobei den Notruf zu tätigen ja schon mal was war.
Ich finde die Geschichte bei aller Düsternis auch sehr gut erzählt.
Und überhaupt schön dich wieder zu lesen“
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Danke sehr. Ja, das Gefühl der eigenen Hilflosigkeit ist sehr schwer auszuhalten und gehört trotzdem zum Leben.
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Ich glaube es ist eines der Gefühle die ich am schlechtesten akzeptieren kann.
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Eine Geschichte, real, nüchtern und mit vielen Bildern bestückt. So ist das Leben oder so kann es sein. LG Doro
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