Archiv der Kategorie: Kürzestgeschichten

Distanzunterricht

„Warum nicht orange?“, fragte meine achtjährige Enkelin Jolanda, während sie eigenhändig mit Buntstiften den dritten Aufsatz ihres Lebens illustrierte. Es war eine Geschichte von „Einhorni“, das seine Mama sehr lieb hatte und ihr das, einen „Zauberschtift“ benutzend, brieflich mitteilte, was für das kleine Tier ein Abenteuer darstellte. So waren die Wörter „Stift“ und „Brief“ und „Abenteuer“ sinnvoll untergebracht, und das musste sein, denn diese Wörter hatte sie in der Videokonferenz mit ihrer Deutschlehrerin mühsam erarbeitet. (Das war, als ihre Klassenkameradin Mira die Konferenz verlassen hatte, weil sie von Sydney aus teilnahm und in Sydney Nacht war und Mira schlafengehen musste.)

Die Illustration stellte ein Baby-Einhorn dar, das aussah, als wäre es aus Honigkuchen gebacken und mit kunterbuntem Zuckerguss verziert worden. Die Vorlage hatte Jolanda mit ihrem Tablet im Internet gefunden, selbst an meinen Drucker geschickt und etwas krakelig in ihr liniertes Heft abgepaust, während der Lautsprecher ihres Tablets internationale Kinderlieder plärrte, die ihr fünfjähriger Bruder Jonathan lauthals und falsch mitsang.

„Das Einhorn ist doch fertig“, wandte ich ein.

„Ja,“ sagte Jolanda, „aber der Hintergrund nicht. Und der soll orange aussehen, weil Abend ist.“

Ich mag die Farbe Orange nicht, aber es war nicht mein Bild, und Jolanda ließ sich von meiner Meinung kein bisschen erschüttern, also malte sie weiter, statt sich endlich um die zehnerübergreifenden Subtraktionen zu kümmern, die als nächste dran waren.

Jonathan hörte auf zu singen, als der Kinderlieder-Clip zu Ende war, und begann stattdessen, Zetermordio zu brüllen.

„Nie kümmerst du dich um mich,“ warf er mir vor. „Immer geht es um Jolanda!“

„Du darfst dein Vorschulblatt ausfüllen“, sagte ich, „aber Jolanda hat gerade Unterricht.“

„Ich habe mein Arbeitsblatt schon ausgefüllt“, maulte er. „Zu Hause bei Papa, als die Mama im Hommofiss war. Jetzt will ich mit Baggerli spielen!“

Weichherzig, wie ich bin, quälte ich meine arthritischen Knochen auf den Boden hinunter und baute einen Turm aus Holzbauklötzen, damit Jonathan ihn mit seinem Spielzeugbagger niederreißen konnte.

„Muss ich die Zwischenschritte wirklich aufschreiben?“, fragte Jolanda, die inzwischen ihr Rechenheft hervorgeholt hatte.

„Ja. Herr Müller will sehen, wie du es gerechnet hast.“

„Aber ich rechne es nicht so, wie Herr Müller will“, beschwerte sich Jolanda. „Darf ich aufschreiben, wie ich es rechne?“

In ihrem Arbeitsheft war das nicht vorgesehen, obwohl sie mit ihrer Strategie zum richtigen Ergebnis kam.

„Nein. Du sollst lernen, es so zu rechnen, wie es im Heft steht.“

„Ich will aber nicht!“

„Das ist egal. Ich will auch nicht immer, was ich muss.“

„Und ich habe Durst.“

„Baggerli und ich haben schon länger Durst,“ meldete sich Jonathan.

„Und überhaupt, wann kommt endlich die Mama?“ fragte Jolanda.

„Wenn ihr Video-Meeting zu Ende ist,“ wiederholte ich die Auskunft meiner Schwiegertochter.

„Können wir vorher noch spielen?“

Ich prüfte die Uhrzeit auf meinem Handy. Halb fünf.

„Ja“, sagte ich.

„Wann?“

„Jetzt.“

Jolanda räumte ihre Hefte in den Ranzen zurück und knuffte fröhlich ihren Bruder.

Genug war genug, befand ich und stand erleichtert auf.

(Zu verarbeiten waren im Rahmen von Christianes Schreibeinladung fünf der sechs Wörter Zetermordio, weichmütig, backen, Lautsprecher, orange und erschüttern, gestiftet von Ludwig Zeidler und Ulrike von Blaupause7, und zwar in nicht mehr als 500 Wörtern. Danke für die Wortspenden und die Einladung!)

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Verbotener Abschied

Für Mama war die Impfung zu spät gekommen.

Die Tochter, selbst schon alt, hastete über das Kopfsteinpflaster, beide Hände schützend an ihren Ohren. Dass die Lautsprecher noch funktionierten!?

Die Rundfunkgeräte – Radio, Fernseher – waren außer Funktion.

Systemausfall.

Die Handys kamen nicht mehr ins Netz. Die Computer zeigten nur noch blaue Schrift vor orangem Hintergrund. Unlesbare Schrift in einer Sprache, die der Frau nicht bekannt war. Warum orange? Warum blau? Sie wusste es nicht. Früher, erinnerte sie sich, in einem anderen Leben, war die Schrift orange gewesen, oder grün, oder weiß, auf schwarzem Grund.

Kaum jemand wusste das noch.

Sie hastete weiter, blieb fast an einem losen Stein hängen, versuchte vergeblich, das Geplärre der Lautsprecher auszublenden.

„Bleiben Sie daheim! Bleiben Sie daheim!“

Gleich würde einer dieser Schutzanzugleute sie nach ihrem Passierschein fragen.

„Gehen Sie zur Arbeit? Lässt die sich nicht im Homeoffice erledigen? Müssen Sie zum Arzt? Pflegen Sie eine Angehörige? Ist Ihr Gang systemrelevant?“

Sie stolperte weiter, würde sich nicht erschüttern lassen. Wie, fragte sie sich, sollte irgendwer im Homeoffice arbeiten? Ohne Internet? Ohne Handy? Ja, früher, in dem anderen Leben (dem mit der orangen Schrift vor schwarzem Grund), da war es möglich gewesen. Da hatte sie das Telefon ausgestöpselt, verbotenerweise, versteht sich, um beim Schreiben nicht gestört zu werden. Ihre Texte speicherte sie auf Disketten, auf Floppy Disks, wie viereckige Schallplatten sahen die aus, und schickte sie per Schneckenpost zum Verlag.

Nur dass die Schneckenpost damals „Post“ genannt wurde. Damals, als man Nachrichten noch nicht postete. Wäre ihre Arbeit heute systemrelevant? Wenn sie denn noch arbeiten würde? Wohl kaum. Wer brauchte schon technische Fachtexte?!

Es war nicht einmal wichtig, dass sie ihrer toten Mutter ein letztes Mal die faltige Wange berühren, ihr das schüttere Haar aus der Stirn streichen wollte, erklärte ihr das Wesen im Schutzanzug.

Tränen durchnässten ihre Maske.

(Die Wörter für die Textwochen 03/04 des Jahres 2021 stiftete Blaupause7. Sie lauten: Lautsprecher, orange, erschüttern. Zu verarbeiten waren diese 3 Begriffe auf Einladung von Christiane in maximal 300 Wörtern. Danke für die Einladung und die Wortspende!)

Das Apartmenthaus

Im letzten Jahr hatte die Nachbarin Zetermordio geschrien, ehe die Polizei kam. Und der Krankenwagen. Und schließlich das Fahrzeug des Bestattungsunternehmens. Ihr Geschrei hatte die Böller übertönt, das Grölen der Jugendlichen vor dem Apartmenthaus, den Gesang der Betrunkenen von den Balkonen. Herr Hamsterbacke hatte, weichmütig, wie er war, den Notruf selbst abgesetzt. Mit dem brutalen Lebenspartner der Nachbarin mochte er sich nicht anlegen. Herr Hamsterbacke war nicht lebensmüde, trotz seiner Schmerzen und des Rollstuhls. 

In diesem Jahr war es still in der Nachbarwohnung. Sie stand seit zwölf Monaten leer. Niemand wollte sie haben, trotz der Wohnungsnot. Obwohl es Blödsinn war zu glauben, dass die Geister der Frau und ihrer Zwillinge darin herumspukten. Die Geräusche, die durch die Wand schnitten, waren anderen Ursprungs, sagte sich Herr Hamsterbacke jede Nacht. Er wollte nicht weg aus dem Apartmenthaus, das er seit über siebzig Jahren bewohnte. Nicht wie Frau Popescu aus dem Dachgeschoss, nicht wie Familie Popovic aus dem Souterrain, nicht wie die zwei Jungs, deren Namen er weder aussprechen noch sich merken konnte. Liebe Jungs, höflich, hilfsbereit. Manchmal hatten sie ihn besucht, um mit ihm einen Kuchen zu backen. Jetzt kamen sie nicht mehr, wohnten weiß-Gott-wo, am anderen Ende der Stadt oder der Welt.

Kein Mensch kam mehr außer dem Pfleger, der jetzt sein Gesicht hinter der Maske verstecken musste, was kein Verlust war. Nie hatte Herr Hamsterbacke den Mann lächeln sehen. Vermutlich hatte er nichts, das ihm ein Lächeln hätte entlocken können. Schon gar nicht jetzt, in der Pandemie.

Herr Hamsterbacke war dankbar, dass weder er noch sein Pfleger sich bisher angesteckt hatten. Und dass der Silvester diesmal ruhig sein würde. Schon um halb zehn hievte er sich aus dem Rollstuhl ins Bett und erwachte um Mitternacht nicht. 

Auch nicht danach. 

Nie mehr.

Endlich war das Apartmenthaus leer und ließ sich verkaufen.

(Die Wörter für die Textwochen 01/02 des Jahres 2021 stiftete Ludwig Zeidler. Sie lauten: Zetermordio, weichmütig, backen. Zu verarbeiten waren diese 3 Begriffe auf Einladung von Christiane in maximal 300 Wörtern. Danke für die Einladung und die Wortspende!)

Und wenn schon!

Es war nicht die Sonne, die Codrutas Haar letztlich doch gebleicht hatte. Und nein, blond geworden war es davon nicht, und silbrig schimmernde Locken würden auch nie daraus werden. Eher sahen die Strähnen aus wie schmutziger Schnee auf einem Feldweg im Frühling, fahles Grau in glanzlosem Schwarz.

Die alt werdende Frau betrachtete sich nachdenklich im spiegelnden Schaufenster des Ladens, der irgendwann in den letzten drei Wochen eröffnet worden sein musste, als sie in der Sommerküche von Erzsébet gegen ihre Grippe ankämpfte. Erzsébet war alt, mindestens neunzig, und nein, sooo alt war Codruta noch nicht. Sah man ihr das an? Dass sie dreißig Jahre jünger war als Erzsébet?

Die Grippe hatte weitere Falten in Codrutas hageres Gesicht gegraben. Neue Altersflecken schienen sich auf ihren Handflächen auszubreiten. Codruta wollte nicht überlegen, ob das auf Hautkrebs hinwies. Grübeln hatte noch nie jemandem geholfen.

Sie war eine harte Frau, hart im Nehmen, „stark“, sagten manche, „eiskalt“ fanden andere ihre Art. Vielleicht, weil es ihr nicht lag, „süße“ Tierlein auf den Schoß zu holen oder fremder Leute Babys zu knuddeln. Ihre eigene Tochter hatte sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Ob sie Kinder hatte?

***

„Knuddeln“. Was für ein idiotisches Wort. So doof wie „Frauchen“ oder „Gassi gehen“. Codruta hasste Verniedlichungen. Sie hasste Erzsébets Zwergspitz und sein widerliches Gebell, sein weißes „Fellchen“, die „Leckerlis“, die Erzsébet ihm immer zusteckte. Sie hasste auch Erzsébets „Miezekatze“ (– miez-miez! – Jere ide (komm her)!).

Seit ihre Mutter – Mamica – gestorben war, verabscheute Codruta die Viecher, diese ekligen Wesen, die mit ihren Knopfaugen alle Menschen verrückt machten.

Viecher wie den Zwergspitz Fifirica und die Siamkatze Miuta, die ihr Vater und ihre Stiefmutter mitnahmen, als sie Codruta bei der Nachbarin zurückließen.

Weil Codrutas Haar nicht so blond war wie das ihrer Stiefmutter? ihre Augen nicht so katzengrün?

***

Pfff. Und wenn schon.

(Danke an Christiane, die diese abc-Etüden betreut, und an Alice, die diesmal die Reizwörter – Grippe, gebleicht, knuddeln– gespendet hat. Wie immer waren die 3 Begriffe in maximal 300 Wörtern zu einem sinnvollen Text zu verbinden.)

Der Lauf der Dinge

Nein, ein Papiertiger war Marinescu nie gewesen. Die Informationsschnipsel, die er von seinen informell Mitarbeitenden erhielt (der alte Mann lächelte, als er dieses moderne Wort dachte), mochten ihre Meldungen für belanglos halten. Sie mochten sich einbilden, „niemandem damit geschadet“ zu haben.

„Ein ausländisches Fahrzeug steht im Hof von Frau Schuster. Seit gestern. Das Kennzeichen …“

„Herr Popescu hat einen Brief nach Washington geschrieben. Die Adresse …“

„Cordelia geht jeden Nachmittag zu dieser Klavierlehrerin, von der wir vermuten, …“

„Die Klavierlehrerin hat ein Verhältnis mit einem Italiener. Er heißt …“

Klatsch, jede Mini-Information. Aber Marinescu wusste danach, dass Antonio de Luca sein Fahrzeug, einen Alfa Romeo, Kennzeichen ROMA X17538, im Hof der Klavierlehrerin Schuster parkte, die wöchentlich die kleine Cordelia Popescu mit Czerny-Etüden plagte, und dass Popescu, de Luca und Schuster miteinander von dem Bohnenkaffee tranken, den de Luca aus Rom mitgebracht hatte. Danach war es leicht, Schuster zu überreden, ihm, Marinescu, alles mitzuteilen, was sie in den Klavierstunden von den Kindern erfuhr.

Marinescu würde nie behaupten, diese Informationen hätten niemandem geschadet. Dafür war er zu ehrlich, zu anständig. Die Informationen hatten Menschen ihren Arbeitsplatz gekostet, ihren Beruf, ihre Freiheit, ihre Lebensfreude, ihr Vertrauen in ihre Verwandten und Bekannten. Das war gut so, denn diese Menschen hatten es nicht anders verdient, hatten versucht, sich dem großen Ziel entgegenzustellen.

Marinescu lauschte dem Plätschern des Springbrunnens, während er versuchte, den Kopfschmerzen zu entkommen, die ihn seit Monaten quälten. Hirntumor. Er würde bald sterben. Es war nicht wichtig, denn das große Ziel war ohnehin unerreichbar geworden: Arbeit für alle, Freiheit, Gleichheit, Vertrauen in eine sonnenhelle Zukunft.

Die Schwäne am Weiher zogen unbeirrt weiter ihre Kreise, registrierten es nicht, als der alte Mann auf der Bank sich nicht mehr regte. Ein Lebewesen weniger auf der Welt. Na und? Das war der Lauf der Dinge.

(Noch einmal: Danke an Christiane, die diese abc-Etüden betreut, und an Donka, die diesmal die Reizwörter – Papiertiger, belanglos, plätschern – gespendet hat. Wie immer waren die 3 Begriffe in maximal 300 Wörtern zu einem sinnvollen Text zu verbinden.)

Der Skiurlaubs-Muffel

„Du fährst jetzt in den Skiurlaub,“ so hörte ich sie kommandieren.

„Weit weg von deinem Bücherstaub.“ – „Nein, bitte nicht, ich will nicht frieren!“

„Du fährst jetzt hin, hab ich gesagt, um deinen Körper zu trainieren!

Sei doch nicht immer so verzagt!“ – „Nein, bitte nicht, ich will nicht frieren!“

„Was bist du mickrig, schwächlich, klein! Hör endlich auf, dich so zu zieren!

Im Skiurlaub wird’s herrlich sein!“ – „Nein, bitte nicht! Ich will nicht frieren!“

Sie ließ nicht locker, und ich fuhr. Mit zwei gegipsten Unterarmen

kam postwendend ich zu ihr retour und sitz gemütlich jetzt im Warmen.

(Die aktuellen Schlüsselwörter für die obigen Reime kommen von Christiane. Ihre drei Begriffe lauten: Skiurlaub, kommandieren, mickrig. Sie waren wie immer in maximal 300 Wörtern zu einem Text zu verarbeiten, der sich diesmal reimt. Danke, liebe Christiane, für den Anstoß!) 

Nachhaltigkeitsmarkt

Die Leute vom Letzte-Wünsche-Mobil des Arbeiter-Samariter-Bundes hatten seinen Wunsch abgelehnt, aber Herr Weniger wollte nicht aufgeben.

Er sortierte seine Sachen für den veganen Nachhaltigkeitsflohmarkt, der nach den Feiertagen am Rathausplatz stattfinden sollte. Da waren die veganen Vanillekugeln, die eine Bäckereiverkäuferin ihm in den Hut geworfen hatte. Ihr Verfallsdatum war nicht abgelaufen. War Zellophan nachhaltig? Und was, wenn jemand eine Nussallergie hatte? Egal. „Nüsse“ stand auf der Ingredienzienliste des Etiketts. Man musste nur lesen können. Nur.

Herr Weniger verdrängte seinen Hunger. Vanillekugeln waren nicht gut für …

Er teilte sich lieber den Brotrest mit der Jungratte, die ihn nachts im verfallenen Schuppen neugierig beäugte. Das war besser, als sie an seinem Bärenfell nagen zu lassen, obwohl die das für einen Leckerbissen zu halten schien. Er hatte das Tier entdeckt, als der erste Herbststurm tobte, und war ihm dankbar, weil es ihn von seiner Herbstdepression ablenkte.

Inzwischen war Herrn Wenigers Diagnose abgesichert. Die Prognose: schlecht. Und jetzt hatten Weihnachtszauber und Wintersonnenwende der Winterdepression Platz gemacht.

Schneeflocken wirbelten durch die Steinwüste der Großstadt, glitten über das Glatteis der Gehwege, glitzerten im reklamebunten Licht, dämpften das Rattern der S-Bahn, das Rauschen des Autoverkehrs, das Hundegebell und das Kinderlachen im nahen Park.

Was hatte Herr Weniger noch zu bieten? Das grüne Kuscheltier, das ein Kindergartenkind ihm auf seine Schlafbank gelegt hatte. Unberührt sah es aus, verpackt in plastikbeschichteten Karton mit Guckloch. Ob es zugelassen würde? Die Teekanne, verbeult, hässlich, würde es. Zum Markt kamen vor allem junge Frauen, die alles hatten und sich das Gefühl kaufen wollten, Menschen zu helfen, die in 500 Jahren am anderen Ende der Welt (vielleicht nie) leben würden. Ob sie für seine getragene Pudelmütze  etwas gäben? Für sein rattenbenagtes Bärenfell?

Herr Weniger fror und träumte stöhnend von dem letzten Glas mit richtig gutem Rotwein, das er vom Erlös kaufen wollte.

(Dies ist ein verspäteter Beitrag zu Christianes Adventüden, frei nach dem Spruch: „Und wenn das fünfte Lichtlein brennt …“. Verarbeitet sind die Schlüsselwörter „Armut, Bärenfell, Glatteis, Herbstdepression, Herbststurm, Hundegebell, Hunger, Jungratte, Kuscheltier, Nussallergie, Pudelmütze, Schneeflocken, Steinwüste, Teekanne, Weihnachtszauber, Wintersonnenwende“ in 300 Wörtern.)

 

 

Novemberschnee

Ihre Unbehaustheit hatte Codruta im Sommer nichts ausgemacht. Unbehaustheit – das Wort gefiel ihr besser als Obdachlosigkeit, und es passte auch besser auf ihre Situation, fand sie. Sie wohnte in Mihaelas Gästezimmer, das deren Mutter und Schwester vielleicht nie brauchen würden. Und im Winter hoffte sie, als Haushüterin unterzukommen, im Haus von Schuster-János, der mit seiner Frau, wie jeden Winter, in seiner Nürnberger Sozialwohnung leben würde. Das hatte im letzten Winter auch geklappt. Und im vorletzten.

Dann, Ende August, als es so heiß war, dass sie Mihaelas neue Klimaanlage zu schätzen wusste (Mihaela war wirklich reich!), hatte sie vom Verkauf des Schuster-Hauses erfahren. Die Schusters waren alt, 85 und 92, sagte der Kurator der Kirchengemeinde. Sie konnten nicht mehr herkommen, um sommers in ihrem Haus zu wohnen. Ein Ehepaar aus Bukarest habe 15.000 Euro dafür gezahlt, einen Spottpreis, meinte der Kurator.

Ein Vermögen. Codruta sagte es nicht. Kein Winterquartier mehr. Aber noch war Sommer. Kein Grund, schwermütig zu werden! Es gab viele Häuser, die leer standen, natürlich, wie in den meisten Dörfern, aus denen die ehemals hier ansässigen Familien ausgereist waren. Aber niemand benötigte eine Haushüterin. Auch nicht im Nachbardorf, das Codruta per Bus aufsuchte (ihre Arthritis machte ihr zu schaffen). Der Versuch, nach einer kostenlosen Winterbleibe zu haschen, war fehlgeschlagen.

Ende Oktober, die Sommerhitze war Nieselregen gewichen, erfuhr Codruta, dass Mihaelas Familie aus Berlin hierher ziehen würde, nicht nur für den Winter wie sonst. Eine Eigenbedarfskündigung. In Berlin gab es keine Wohnungen, die Mihaelas Mama von der Sozialhilfe bezahlen konnte. „Und ich habe auch nicht so viel Geld“, sagte Mihaela. Vielleicht war sie doch nicht wirklich reich.

Morgen nun – morgen würde Dezember sein – sollten Mihaelas Verwandte ankommen. Codruta wärmte ihren wehen Rücken am Kachelofen. Ab morgen war Unbehaustheit ein Synonym für Obdachlosigkeit.

Draußen ging der Nieselregen in Schneegestöber über.

(Aktuelle Kürzestgeschichte der abc-Etüden, die dritte: Die Schlüsselwörter für den obigen Text kommen von Bernd. Seine drei Begriffe lauten: Unbehaustheit, schwermütig, haschen. Sie waren wie immer in maximal 300 Wörtern zu verarbeiten. Danke, Bernd und Christiane, für den Anstoß!) 

Letzter Wille

„Du musst mehr haschen, dann geht es dir besser,“, sagte Caroline, aber sie hatte unrecht. Haschen half nicht gegen die Unbehaustheit. Haschen löste keine Probleme, es dämpfte allenfalls die Schmerzen, aber wenn Johannes ehrlich war, dann musste er zugeben, dass die Betäubung die Schmerzen immer weniger in Schach hielt. Dass die Schmerzen dumpf durch die Wolkigkeit drangen, die ihnen die Droge vorzugaukeln versuchte. Dass die Droge die Probleme ansonsten eher verschlimmerte als löste, denn wenn die Apothekendosis aufgebraucht war, wenn die heimlichen Treffen mit dem schmuddligen Dealer im Stadtwald anstanden, wenn das Geld dafür akribisch eingeteilt werden musste, das Johannes in besseren Zeiten angespart hatte …

Caroline wusste nichts von diesem Geld, und er würde ihr nichts davon sagen. Er mochte sie gern, aber er traute ihr nicht. Nicht, wenn es um Geld ging. Nicht, wenn es um Drogen ging. Und sonst … nun, sonst auch nicht. Aber er würde nicht derjenige sein, der ihr sagte, dass Haschen der Anfang einer Rutschbahn sein konnte, einer Rutschbahn ins Nichts, wo einen nicht einmal die Dunkelheit mehr auffing. Er war nicht ihr Vater und nicht ihr Großvater. Sie würde ihm keine Silbe glauben.

Schade um das Mädchen, dachte der alte Mann schwermütig und horchte dem Müllfahrzeug nach, das an der Eisenbahnbrücke vorbeifuhr, unter der er saß. Vorüberwehender Verwesungsgeruch ließ ihn würgen. Johannes fror und dachte daran, dass Caroline keine Chance hatte, niemals eine gehabt hatte, niemals eine haben würde.

Warum machte ihm das ein schlechtes Gewissen? Weil er seine Chance gehabt und genutzt, weil er sein Leben gelebt und bis zur Neige ausgekostet hatte?

Vielleicht sollte er Caroline den jämmerlichen Rest seines Geldes vererben. Sollte sie doch damit machen, was sie wollte! Er zückte den Kugelschreiber und schrieb sein Testament auf einen Papierrest, den der Herbstwind unter die Brücke geweht hatte.

(Aktuelle Kürzestgeschichte der abc-Etüden, die zweite: Die Schlüsselwörter für den obigen Text kommen von Bernd. Seine drei Begriffe lauten: Unbehaustheit, schwermütig, haschen. Sie waren wie immer in maximal 300 Wörtern zu verarbeiten. Danke, Bernd und Christiane, für den Anstoß!) 

Blätter im Wind

Sie wollte nach den Blättern haschen, 

Sie pflücken aus dem Sturm, dem raschen,

Der durch das Himmelsleuchten strich,

Bis es den schwarzen Wolken wich.

 

Sie wollte gern den Blättern gleichen,

Um Nacht und Dunkel auszuweichen,

Und auszureisen, fort, ins Nicht,

Nach Nirgendwo und außer Sicht.

 

Schwermütig saß sie da, wie Blei,

Sie hob nicht ab, sie war nicht frei.

Der Frohsinn ist kein Kunststoffrest,

Der sich bequem recyceln lässt.

 

Ihr blieben nur Gedankenspiele.

Ob Unbehaustheit ihr gefiele?

Ganz ohne Gitter? Ohne Ketten?

Würde sie das vor allem retten?

 

Sie wollte nach den Blättern greifen,

Und nach den Wolken, die in Streifen

Der Winternacht entgegen flogen.

Es gab kein Nicht. Licht war gelogen.

 

(Die aktuellen Schlüsselwörter für die obigen Reime kommen von Bernd. Seine drei Begriffe lauten: Unbehaustheit, schwermütig, haschen. Sie waren wie immer in maximal 300 Wörtern zu einem Text zu verarbeiten, der sich diesmal reimt. Verarbeitet sind, leicht abgewandelt, auch die drei Begriffe Himmelsleuchten, recycelbar und ausreisen, die Anna-Lena gestiftet hatte. Danke, Anna-Lena, Bernd und Christiane, für den Anstoß!)