Archiv der Kategorie: Märchen

Traumjob trotz Hindernissen

Der Juniorchef erinnerte Beate an einen Froschkönig: schleimig, kalt, hochmütig, anspruchsvoll. Nur die Krone fehlte auf seinem pomadigen Haar.

„Ich kann dir helfen“, tönte Achim. „Ich hole dir den Ball aus dem Brunnen und verschaffe dir diesen Job, den du so willst. Du musst nur mit mir ausgehen. Mit mir essen. Nur einmal. Du musst …“

Beate WOLLTE diesen Job. Sie hatte zehn Jahre lang dafür gearbeitet, und sie wusste, dass sie ihn meistern konnte. Aber da waren noch die anderen, die ihn auch haben wollten, 122 Menschen, lauter Männer. Beate fragte sich, ob sie sich zu viel auf ihre eigenen Fähigkeiten einbildete, wenn sie nach der Präsentation der anderen Arbeiten überzeugt war, dass keiner von ihnen für die ausgeschriebene Stelle so gut qualifiziert war wie sie. In jeder Präsentation erkannte sie auf Anhieb fatale Fehler, die das entsprechende Projekt zum Scheitern verurteilten. Fehler, die sie im ersten Entwurf in ihrer Präsentation auch gemacht und später mühsam ausgebügelt hatte.

Aber Beate hatte einen Fehler, den alle anderen nicht hatten: Sie war eine Frau. Und sie wusste, in diesem Unternehmen arbeiteten KEINE Frauen, obwohl in jeder Stellenanzeige darauf hingewiesen wurde, dass bei gleicher Qualifikation Frauen – oder neuerdings Menschen eines anderen, nichtmännlichen Geschlechts – bevorzugt würden. Aus irgendeinem Grund fand die Jury die Qualifikation von Nicht-Männern niemals gleichwertig. Sie wusste, ihre Aussichten waren und blieben trüb.

Und dann kam dieser schleimige, kalte … Sie rammte ihm ihr Knie gegen den Körperteil, der bei Männern besonders empfindlich ist, und stieß ihn gegen die Wand, bevor sie davonrannte.

Doch sie bekam den Job! „Frauen wie Sie brauchen wir in unserem Unternehmen“, sagte der Juniorchef am nächsten Tag, „Frauen, die sich durchsetzen können und wissen, was sie wollen.“

Hatte Beate Achim für kalt und schleimig gehalten? Er war nur cool. Und professionell. Und eigentlich sogar nett.

(Die Wörter für die obige Geschichte kommen von Viola und ihrem Blog viola-et-cetera. Die drei Begriffe lauten: Froschkönig, trüb, helfen. Sie waren wie immer in maximal 300 Wörtern zu einer Geschichte zu verarbeiten. Danke, liebe Viola und liebe Christiane, für den Anstoß!)

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Abgereist: Misi und der Nopupa

Misi, der Reisefrosch, der seit dem 8. Januar hier zu Besuch war, ist gestern abgereist. Und nicht genug damit: Er hat Nopupa mitgenommen, das Quatschwörter-Wesen, das zu Sätzen wie „kanater mögert nibist, maniger harst Kunaka“ neigt. Misi war ein wenig traurig, dass die schöne Hüpferei auf meinem Bett mit seinem neuen Freund Bepampam, dem Hüpfewesen, nun vorbei sein soll. Denn bei Frau Holle, wo er zu Hause ist, darf er definitiv nicht am Bett herumhüpfen.

Damit hat sich Bepampam etwas getröstet darüber, dass ich ihm den Gegenbesuch bei Misi verweigert habe. Ich brauche nämlich den Bepampam, er ist dazu da, mich aufzuheitern, wenn mich der Kummer packt. Das ist zwar nicht mehr so oft der Fall wie vor zweieinhalb Jahren, als mein Mann gestorben ist, aber es kommt immer wieder vor. Dann ist Bepampam da, und das ist besser als Schokolade oder Birnenschnaps, denn es macht weder dick noch süchtig. Wobei ich Birnenschnaps sowieso nicht trinke, aber sei’s drum.

Die anderen Anstell-Wesen, das Babymonster und der kleine Dino mit den Stacheln am Rücken und dem bösen Gesicht, das Gespenst ohne Augen und der Bagrami, der mit Vorliebe Bauklötzchen durch die Gegend wirft, waren ziemlich enttäuscht, dass meine Wahl auf den Nopupa gefallen ist. Musste aber sein. Babymonster sind im IGE (InternetGestaltenExpress) fehl am Platz, ihr Geschrei würde die Mitreisenden zum Wahnsinn treiben, und niemand hätte Monster-Mamamilch genug, sie zu beruhigen. Zumal Babymonster dafür ihre Monstermama brauchen und keineswegs mit der Flasche zufriedenzustellen sind. Der kleine Dino ist, wenn er anfängt, grün zu leuchten, weil er Hunger hat, eine Gefahr für die Füßchen aller Anwesenden, die er am liebsten sofort anknabbern würde, das Gespenst ist leider zu sichtbar für den IGE, da es aus einem Seidentaschentuch mit Styroporkopf besteht, und der Bagrami ist  noch zu klein, um zu begreifen, dass er mit seiner Bauklötzchen-Wurfmanie andere verletzen könnte.

Misi wollte aber unbedingt eines meiner Anstell-Wesen zu einem Gegenbesuch mitnehmen, so blieb nur der Nopupa übrig. Er ist meistens vernünftig, und sein Quatsch beschränkt sich auf das Erfinden unsinniger Wörter und Sätze. Damit mag er einen ganzen IGE voller Internet-Gestalten nerven bis zum Geht-nicht-mehr, aber er verletzt wenigstens niemanden, weder andere noch sich selbst, und ich habe versucht, ihm einzuschärfen, dass er auf der Fahrt und während des Besuchs brav sein soll. Er kann sich ja durchaus auf Deutsch (und auch auf Englisch, bei Bedarf) verständigen, wenn er will, es macht ihm nur keinen so großen Spaß.

Seit Misi und der Nopupa weg sind, kommt mir meine Wohnung erstaunlich ruhig vor. Mein Bett sieht fast glatt aus, weil der Bepampam nur ganz bisschen darauf herumgehüpft ist.

„Ohne den Misi ist das nicht lustig“, mault er.

Der Bagrami hockt vor den Bauklötzchen und starrt sie nur an, ohne damit zu werfen.

„Ohne den Misi ist das nicht lustig“, beschwert er sich.

Das Gespenst ohne Augen habe ich heute noch gar nicht gesehen. Es ist einfach in seiner Spielzeugkiste geblieben und scheint zu schlafen.

Der kleine Dino liegt satt und grau und zusammengerollt am Balkon neben der Blumenerde und sagt nicht Mack und nicht Muh.

Als ich ihm die Tür öffne, damit er ins Warme kommen kann, sieht er mich schmollend an:

„Ohne den Misi …“

„Ohne den Misi ist es nicht lustig?“, frage ich. Er nickt nur und antwortet nicht.

Fast finde ich es langweilig hier, wenn es so still ist, denke ich gerade.

Bis ich dieses leise Wimmern wahrnehme, mit dem das Babymonster seine Heulattacken einzuleiten pflegt.

Oh nein! Hoffentlich dauert das nicht an, bis der Nopupa wieder da ist!

Aber wie auch immer: Ich wünsche Misi und dem Nopupa eine gute Reise und dem Nopupa ganz viel Spaß bei seinem ersten Abenteuer als (fast) alleinreisendes Anstell-Wesen.

 

Misi und die Anstell-Wesen

Der Reisefrosch Misi, wohnhaft bei Frau Holle am Regenbogen, ist jetzt schon seit zwölf Tagen bei uns zu Gast, seit dem 8. Januar. Ich war sehr gespannt auf seinen Besuch, und noch gespannter waren meine Anstell-Wesen, die meine Enkeltochter Mira sich ausgedacht hat, und die seither Mitbewohnende meiner Wohnung sind. Misi, der Reisefrosch, passt ausnehmend gut hierher, wie wir alle schnell festgestellt haben. Deshalb sind wir traurig, dass er am Montag wieder abreisen will. Zurück zu Frau Holle. Weil er bisher keine neue Einladung erhalten habe. Aber er freue sich natürlich auch auf zu Hause.

Seit zwölf Tage ist hier pausenlos Rabbatz angesagt, die Anstell-Wesen hüpfen mit Misi um die Wette herum und reden Quatsch und werfen mit Bauklötzchen und verzehren nebenher Schokolade und Weihnachtsgebäckreste, rennen durch die Wohnung, werfen krachend die Türen zu, schieben Möbel hin und her (die meisten meiner Möbel haben Rollen, das finde ich praktisch). So wild treiben sie es, dass ich gar nicht zum Schreiben gekommen bin. Zumal mein Muser sich immer noch auf den Kanarischen Inseln (ich weiß nicht einmal genau wo) die Sonne auf den Bauch brennen lässt und mir kein bisschen hilft.

Misi macht bei allem mit, was meine mehr oder weniger unsichtbaren Wesen anstellen, und es sind wirklich Anstell-Wesen, da hat meine dreijährige Enkeltochter recht. Mira kennt sich mit Anstell-Wesen aus, denn sie ist selbst eine Anstell-Mira, gibt sie freimütig zu. Am liebsten würde sie den ganzen Tag auf dem Omabett herumhüpfen wie Bepampam, das Hüpfewesen, das sie sich eigens zu diesem Zweck erfunden hat. Nun ja, nicht ganz zu diesem Zweck. Eigentlich ist Bepampam dazu gedacht, die Oma (also mich) aufzuheitern, wenn sie mal wieder zu viel an den Opa denkt, der gestorben ist.

Bepampam leistet mir Gesellschaft, wenn Mira daheim bei Mama und Papa und dem Brüderchen oder im Kindergarten ist. Und er hüpft durch die Wohnung, über die Möbel, auf den Stühlen, auf dem Tisch und – besonders gern – auf dem Bett. Weil das so schön federt. Normalerweise hüpft er da allein herum, denn die anderen Anstell-Wesen (Bagrami und Nopupa, der kleine Dinosaurier mit den Stacheln am Rücken und dem bösen Gesicht, das Babymonster und das Gespenst ohne Stacheln und ohne Augen) sind keine Hüpfewesen.

Aber im Augenblick gibt es kein Normalerweise, denn Misi ist da, und Misi, daran ist nicht zu rütteln, IST ein Hüpfewesen. Definitiv. Mein Bett sieht aus, als hätte der Orkan Friederike darin gewütet. Misi und Bepampam haben es fertiggebracht, dass auch Bagrami und der Nopupa den Spaß am Betthüpfen entdeckt haben. Wenn ich versuche, sie zu beruhigen, schreien sie nach „Trostschokolade“, weil es so wehtut, nicht hüpfen zu dürfen. Und wenn ich nicht bereit bin, ihnen das zehnte Stück Trostschokolade aus dem Kühlschrank zu holen, engagieren sie den kleinen Dino, das Babymonster und das Gespenst ohne Augen als Helferlein.

Obwohl sie sonst vor den dreien nicht ganz zu Unrecht ein bisschen Angst haben. Vor allem der kleine Dinosaurier mit dem bösen Gesicht und den Stacheln am Rücken ist ein gefährlicher Patron, wenn er hungrig ist. Er mag nämlich keine Schokolade, sondern Füßchen. Miras Füßchen, die Füßchen vom Brüderchen, die Füßchen vom Bepampam, die Füßchen vom Nopupa, die Füßchen vom Bagrami und, ja, auch die Füßchen vom Misi! Mira und die Anstell-Wesen wissen das und hüten sich vor dem Dino, wann immer er grün leuchtet, denn das zeigt an, dass er nach etwas Essbarem sucht.

Nur der arme Misi konnte die Zeichen nicht richtig deuten und spielte mit dem grün leuchtenden Dino Plumps-ins-Loch, ein Spiel, bei dem die Wesen versuchen müssen, nicht in die Schüssel zu fallen, in der die Puppen gebadet werden. Sie rennen um die Schüssel herum und stellen sie einander in den Weg, und wer zuerst hineinfällt, hat verloren, aber alle, auch der Verlierer in der Schüssel, lachen sich kaputt darüber. Es sei denn – ja, es sei denn, der kleine Dino ist mit von der Partie und leuchtet grün. Gleich am zweiten Tag von Misis Besuch war das der Fall. Es fiel Misi nicht auf, dass er plötzlich völlig allein mit dem Dino spielte, und da er die Gegebenheiten noch nicht gut kannte, fiel er sehr schnell in die Schüssel, die der Dino ihm in den Weg stellte.

Ich war gerade im Omazimmer, in dem ich zu arbeiten pflege, als es passierte, und wähnte meine Wesen friedlich miteinander spielend. Es klang alles vergnügt und fröhlich im Spielzimmer nebenan. Meine Enkeltochter war im Kindergarten, ihr Brüderchen bei seiner Mama, der Dino, dachte ich, in sicherer Verwahrung am Balkon, wo es keine Füßchen gibt, sondern nur Blumenerde, die er ersatzweise auch gern frisst. Aber plötzlich hörte ich einen spitzen Schrei, mehrstimmig, es rumpelte, etwas schleifte über den Boden …

„Dino, hinaus mit dir! Dino, du kannst doch nicht unserem Misi die Füßchen anknabbern! Weg mit dir!“

Das waren die Stimmen vom Bepampam, der so gut wie nie spricht, vom Nopupa, der meist unverständliche Quatschwörter benutzt und vom Bagrami, der lieber mit Bauklötzchen als mit Redewendungen um sich wirft. Alarmiert rannte ich, so schnell eine Oma rennen kann, ins Nebenzimmer und sah mir die Bescherung an. Misi hockte blassgrün und in einer Art Schockstarre in der Schüssel, der kleine Dino, leuchtend grün vor Hunger, klapperte mit den Zähnen und zischte mit bösem Gesicht immer wieder „Füßchen! Füßchen fressen!“, Bepampam hockte in einer Ecke des Omabettes und bewegte sich nicht. Bagrami und Nopupa hielten sich an der offenen Balkontür fest, während das Babymonster und das Gespenst ohne Augen den Dino hinauszerrten und die Balkontür wieder schlossen.

„Misi war schuld!“, sagte das kleine Gespenst. „Er hat den Dino hereingelassen, weil es draußen so kalt war.“

„Nein“, sagte der Bepampam, „Misi kann doch die Klinke gar nicht bedienen. Das Gespenst hat ihm geholfen.“

„Nur weil das Babymonster gesagt hat, der Dino sei nicht hungrig“, wehrte sich das Gespenst, das recht weiß um die Nase war (es ist die einzige der Anstell-Wesen, die ich als zuständige Menschin sehen kann, weil es einen Kopf aus Styropor und einen Körper aus einen Seidentaschentuch besitzt).

„Wenn Mira zu Besuch kommt, wird sie euch alle schimpfen“, drohte ich. „Den Dino hereinlassen! Was habt ihr euch dabei gedacht!“

„B-b-bleibt e-er j-jetzt d-draußen?“, fragte Misi ängstlich.

„Ja!“, riefen die anderen im Chor und halfen dem Reisefrosch auf die Beine. Kurz darauf drückten sie sich die Nasen an der Balkontür platt und beobachteten, wie der kleine Dino grummelnd Blumenerde fraß, bis er sich grau und gesättigt zusammenrollte, um einzuschlafen.

Seither ist er nur noch bei den Spielchen dabei, wenn er grau ist, denn Misi hat seine Lektion gelernt, und auch das Gespenst und das Babymonster werden nach Miras Strafpredigt und dem dreistündigen Schokoladenentzug sicher nicht so bald wieder die Balkontür zur Unzeit öffnen.

Gerade spielen sie übrigens alle mit Miras Bauklötzchen, jeder mit einer Tasse Spielschokolade neben sich, in Miras weihnachtsneuen Schokoladentässchen. Und ich habe mich ins Omazimmer geschlichen, um endlich diesen Besuchsbericht zu schreiben, solange Miras Mama mit Miras Brüderchen zu Besuch ist und auf die ganze Bagage aufpasst. Die lässt es bestimmt nicht zu, dass irgendwer irgendwem aus irgendeinem Grund die Füßchen abfrisst.

 

 

 

Stummes Rufen

„Komm her“, sagte Franz-der-Fisch, „komm her zu mir!“

Er sagte es mit seinen großen, grünen Augen zu niemand Bestimmtem, denn niemand außer ihm war da, und er wusste es. Trotzdem bettelte er stumm mit halb geöffneten Lippen um Beachtung.

Warum kam denn keiner? Wo waren alle? Gut, auf Harry-den-Hai verzichtete er gern, und mit Walter-dem-Wal konnte er auch wenig anfangen. Aber Dietmar-der-Delfin? Was war mit dem? Wie herrlich hätte Franz mit ihm spielen können, wie oft hatten sie es zusammen getan!

War er etwa Manfred-dem-Menschen ins Netz gegangen? Bloß das nicht! Ein Dasein im Aquarium eines zoologischen Gartens war das Schrecklichste, das sich Franz und Dietmar je ausgemalt hatten. Roberta-die-Robbe, der die Flucht aus einem Zoo gelungen war, hatte gar nicht aufhören können, Horrorgeschichten darüber zu erzählen.

„Komm her, du“, bettelte Franz weiter mit den Augen, bettelte ins Leere hinein, sinnlos, denn in dem Gewässer, das sein Zuhause war, lebte außer ihm nichts mehr, und die Reste des aufblasbaren Plastikkrokodils, die blaurosa an einem vorspringenden Unterwasserfelsen baumelten, konnten Franz nicht antworten, hätten es nicht einmal zu der Zeit gekonnt, als der Strand noch sauber und voller Menschenkinder gewesen war, die fröhlich ihre Sandburgen gebaut hatten.

(Diese Geschichte entstand als Bildbeschreibung während eines Schreibworkshops bei der Lektorin und Schreibtrainerin Maike Frie in Münster. Darzustellen, aber nicht zu nennen war der Begriff „traurig“ anhand des Aussehens eines bunten Fisches auf schwarzem Grund.) 

Die Babymuschel

Die kleine Muschel lag allein am Strand und weinte, weil sie so allein war. Sie wollte zu ihrer Mamamuschel oder zu ihrer Papamuschel, zu irgendeiner Elternmuschel eben, oder zumindest zu einer Omamuschel oder einer Opamuschel. Sie war doch noch ein Baby!

Zwar hatte der Straßenlöffel, der neben ihr auf der Strandpromenade lag, auch kein Zuhause, keine Straßengabel, kein Straßenmesser kümmerte sich um ihn, aber das war etwas anders: Er brauchte keine Mamamilch mehr.

„Die brauchst du auch nicht“, schrie die Scherenmöwe, die im Vorbeifliegen den blauen Himmel zerschnitt, „Muscheln kriegen sowieso keine Mamamilch, das steht doch in allen Algenbüchern, und jeder Dummfisch weiß es!“

„Ich bin aber kein Dummfisch“, wollte die Babymuschel sagen und konnte es natürlich nicht, weil Muscheln nicht reden können und Babys auch nicht und Babymuscheln schon gar nicht.

Aber zum Glück war auch Johanna da, die mit ihrem Papa eine Art Kescher-Ferien am Strand verbrachte, und Johanna wusste genau, was Babys brauchen, denn sie hatte ein kleines Brüderchen, das nie mit durfte zu den Papa-Wochenenden, weil es noch Mamamilch brauchte. Und so half Johanna der Babymuschel, das zu sagen, was sie bestimmt meinte, und der Papa half Johanna und dem Muschelbaby, die Muschelmama und den Muschelpapa, zwei Muschelomas und einen Muschelopa am Strand zu finden.

Nur den zweiten Muschelopa fanden sie nicht.

„Das geht auch nicht“, sagte Johanna, „der andere Muschelopa ist ja totgegangen. Wie mein Opa Bernd, der dein Papa war.“

„So wird es sein“, sagte der Papa und half Johanna und dem Muschelbaby ein bisschen beim Weinen.

(Diese Geschichte entstand als Reizwortgeschichte während eines Schreibworkshops bei der Lektorin und Schreibtrainerin Maike Frie in Münster. Die Reizwörter waren ElternMuschel, StraßenLöffel, ScherenMöwe, AlgenBücher und KescherFerien. Die Wörter durften, mussten aber nicht alle verwendet werden.) 

Rosa Wolken

„Wegrennen müsstest du“, empfiehlt der Schmerz.

„Nein. Du gehörst ins Mauseloch, ganz tief hinten hinein, in ein Versteck, in dem dich keine Katze findet“, widerspricht der Kummer.

„Du musst schreien, das hilft“, sagt die Traurigkeit.

„Genau. Und einen Sandsack hauen“, schreit die Wut.

„Nein“, beharrt der Schmerz, „du musst rennen, rennen, rennen. Rennen, bis du nicht mehr kannst. Bis die Puste dir ausgeht. Bis du zusammenbrichst und nur noch Sterne vor den Augen siehst.“

„Ja“, stimmt das Leid zu. „Rennen hilft. Aber weit weg muss es sein. Irgendwohin, wo niemand dich kennt, wo die Sonne scheint, wo nichts mehr wehtun kann.“

„Hilft nicht“, meldet sich wieder der Kummer. „Versteck dich einfach in der Badewanne. Schließ ab, damit niemand dich stören kann. Lass warmes Wasser über dich fließen und denk an nichts. Wenn du das nicht kannst, lies ein Buch und denk an die Probleme anderer Menschen.“

„Quatsch! Du musst funktionieren. Alles andere ist nicht wichtig“, schimpft aus dem Hintergrund die Pflicht. „Du bist schließlich nicht allein auf der Welt. Du hast gesunde Arme und Beine und Augen und Ohren  und Hände und überhaupt, du hast ein Dach über dem Kopf und genug zu essen, was willst du eigentlich?“

„Du gehörst ins Bett“, bestimmt die Depression, „du kannst sowieso nicht arbeiten. Und ob du etwas isst oder nicht, kann dir egal sein. Wer nicht arbeitet, muss auch nicht essen.“

„Blödsinn“, brüllt der Hunger aus der Küche, „essen ist wichtig! Viel Zucker, das hilft! Eis wäre gut. Und Schokolade. Und Kuchen.“

„Du solltest ein wenig lustiger sein“, flüstert die Lebensfreude, wird aber sofort vom Selbstmitleid und der Angst ausgemobbt, wie immer, wenn sie versucht, sich mit ihrem leisen Stimmchen in die Diskussion einzubringen. Brutal tritt ihr die Verzweiflung gegen das Schienbein, leert ihr den spärlich gefüllten und abgegriffenen rosa Ranzen aus und dreht ihr die mageren Arme auf den Rücken.

„Also bleiben wir unten?“, fragen die Jalousien.

„Also deckt mich niemand für den Tag um?“, erkundigt sich das Bett.

„Ich weiß nicht“, sagt der Verstand, „ich kann euer Chaos nicht mehr ordnen.“

„Das stimmt auffällig“, bestärken ihn die Tränendrüsen, „da hilft nur eine gründliche Feuchtreinigung.“

„Es gibt keine Antworten“, verkündet die Todessehnsucht. „Aber es gibt ein Ende.“

„Auf jeden Fall“, traut sich die Lebensfreude nicht auszusprechen, „nur noch nicht jetzt.“

Und heimlich, still und leise holt sie ihre alte Sprühdose aus dem Versteck in der Seitentasche ihres in die Ecke geworfenen Ranzens und sprüht rosa Wolken in den Raum, die für einen kurzen Moment nach Sommer und Vanille duften, ehe die Nacht sie erstickt.

Ausweisepläne

„Ich wüsste etwas“, sagte die Mutter Gottes, „was meinen Sohn und seinen Vater dazu bringen könnte, uns für ein Weilchen auszuweisen aus diesem Paradiesgarten, der immer mehr zum Gefängnis wird für uns: Wir müssten einfach ein paar Birnen vom Baum des Lebens naschen, die sind bestimmt lecker, und den Führenden Männlichen Heiligen dürften wir nichts davon abgeben, damit Gott-Vater sie nicht auch zu unserem Ausflug in die Freiheit als Aufpasser mitschickt.“

Eva betrachtete traurig ihr dunkelolivgrünes Spiegelbild, das die himmlisch ruhige Wasserfläche erbarmungslos klar zurückwarf, und betrachtete die klobigen Filzstiefel, die soeben in der ungeliebten Uniformfarbe RGB 85, 107, 47 geliefert worden waren, mit Verachtung und Abscheu.

„Und wohin könnten wir dann gehen?“, fragte sie, und die Resignation in ihrer Stimme schien grenzenlos und kullerte wie Tränen von Wolke zu Wolke, „hast du dir das auch schon überlegt?“

„Nach Zweibrücken,“ platzte Maria heraus.

„Wie bitte?“ Noch niemals hatte die Erste Frau von einer solchen Ortschaft gehört.

„Dort findet am 28. Oktober eine Grusel-Modenschau statt“, sagte die Mutter Gottes, „und wenn ich uns so anschaue, haben wir gute Chancen, dafür zugelassen zu werden.“

„Hm“, machte die Erste Frau, „falls wir nicht dazu verdammt werden, dann für immer dort zu bleiben?“

„Werden wir nicht“, versprach Maria, „auf meinen Sohn kann ich mich verlassen, wer sich auf ihn beruft, bekommt jede Schandtat vergeben, und außerdem – ewig leben kann in Zweibrücken niemand, irgendwann müssen wir dort also sterben, und schwups sitzen wir wieder hier auf unserer Wolke, gestärkt von einem Kurzurlaub, neu eingekleidet und voller origineller Ideen, wie wir den FMH ein Schnippchen schlagen können.“

(Mit einem Dankeschön an Christiane für ihre Einladung zu den abc-Etüden, diesmal die Nummer 1 mit den Wörtern „verdammt“, „Zweibrücken“, „grenzenlos“, die wie immer in maximal 10 Sätzen unterzubringen waren. Es handelt sich um eine Fortsetzung meiner Maria-und-Petrus-Anekdoten. Oder Maria-und-Eva-und-die-F(ührenden)-M(ännlichen)-H(eiligen) …)

Paradiesische Innovation

Eva und Maria hatten sich nicht getäuscht. Tatsächlich ließ Petrus, im Einvernehmen mit Adam und unter der tätigen Mithilfe von Noah, eine Honigpumpe ins Paradies einfliegen, ein riesiges Ding, das den Honig der politischen Korrektheit von der Erde pumpen sollte, weil im Paradies nach Meinung der drei männlichen Heiligen der bessere Platz dafür war. Petrus installierte eigenhändig das glitzernde Wunder der Technik, genau zwischen dem Baum der Erkenntnis und dem Baum des Lebens, und erklärte der Ersten Frau und der Mutter Gottes die Funktion in allen Einzelheiten:

„Hier fließt die Gerechtigkeit durch, dieser Schlauch führt die Chancengleichheit, und da seht ihr die Barmherzigkeit und die Gnade, also eine echte Innovation gegenüber dem Modell, das sie auf der Erde benutzen“, schwärmte der Schließer der Himmelspforte. „Die Pumpe ist ganz einfach zu bedienen, händisch, aber nicht allzu schwergängig, in einem Monat  oder spätestens in dreien habt sicherlich selbst ihr verstanden, wann ihr wohin drücken müsst, um die richtige Mischung zu erzeugen.“

„Als wenn wir Vollidiotinnen wären“, sagte die Erste Frau, als die Herren Heiligen sich umwandten, um wieder zu ihren Wolkenbänken zu gehen, wo wichtige und dringliche Musikarbeit an ihren Harfen und Posaunen auf sie wartete.

„Warum wusste ich das vorher?“, fragte die Mutter Gottes, „dass die so eine widerliche Maschine beschaffen würden, und dass die händisch zu bedienen ist?“

„Und zwar von uns“, stimmte Eva zu, „wie ich dir gleich gesagt habe.“

„Aber dass sie uns dann nicht mal zutrauen, dieses Monster korrekt zu bedienen, das ist schon mehr als fragwürdig“, schimpfte Maria, „das ist eine Beleidigung der heiligen weiblichen Intelligenz!“

„Du sagst es“, seufzte Eva, während sie die bunten Knöpfe betätigte, die alle fein säuberlich beschriftet waren und eine Fehlbedienung gar nicht zuließen, und schielte sehnsüchtig vom Baum der Erkenntnis zum Baum des Lebens hinüber, „ich wollte, mir fiele etwas ein, dass deinen Sohn und seinen Vater dazu bewegen könnte, uns bald wieder auszuweisen von hier.“

(Mit einem Dankeschön an Christiane für ihre Einladung zu den abc-Etüden, diesmal die Nummer 1 mit den Wörtern „Monat“, „fragwürdig“ und „gehen“, die wie immer in maximal 10 Sätzen unterzubringen waren. Es handelt sich um eine Fortsetzung meiner Maria-und-Petrus-Anekdoten.)

Misstöne auf Wolke 7

Ein paar Tage nach dem fatalen Uniformbeschluss, der in der Heiligensitzung mit großer Mehrheit gefasst worden war, nachdem Petrus und Adam die weiblichen Heiligen so eingeschüchtert hatten, dass außer Maria und Eva keine sich traute, offen dagegen zu stimmen, saßen die beiden himmlischen Rebellinnen trübsinnig nebeneinander auf der Wolke Nummer 7 eines grauen November-Wolkenteppichs, der so undurchdringlich dicht war, dass sie nicht einmal ihre Beine frei darin baumeln lassen konnten. Sie waren züchtig in dunkles Olivgrün gehüllt, RGB 85, 107, 47, wie vorgeschrieben; hochgeschlossen, fersenlang, sackförmig geschnitten waren die neuen Kleider, zu denen dunkelolivgrüne Filzstiefel zu tragen waren, die allerdings noch angefertigt werden mussten, weshalb die beiden Heiligen einstweilen dunkelolivgrüne Stofflappen um die Füße gewickelt hatten.

„Ich finde, für diese Beschlussvorlage müsste man Petrus aus dem Paradies ausweisen, am besten in eine triste Trabantenstadt voller dunkelolivgrüner Häuser, Straßen und Parkbänke“, sagte Eva wie nebenbei und zupfte lustlos an ihrer Harfe.

„Ja, auf den Mond schießen sollte man ihn“, verdeutlichte Maria den Vorschlag und malträtierte ihr Instrument mit einer misstönenden Reihe falscher Griffe, „am besten auf einen der Trabanten des Jupeters, einen mit dunkelolivgrüner Atmosphäre, das würde zu ihm passen.“

„Jupiter meinst du wohl“, korrigierte Eva, aber Maria grinste nur und gab zu bedenken, wie viel besser Jupeter zur Abschiebung eines Heiligen namens Petrus passen würde.

„Auf der Erde könnte man ihm Interpol auf den Hals hetzen, wenn er sich weigern würde, sich auf den Jupetermond abschieben zu lassen“, vermutete die Mutter Gottes hoffnungsvoll, was jedoch bei Eva nur ein Kopfschütteln auslöste: „Auf der Erde sind Demokratie und Gleichberechtigung auch nur leere Wörter, die von den Regierenden und den Reichen als neuer Honig auf die Regierten und Armen geschleudert werden, damit sie daran kleben bleiben und sich nicht mehr rühren können. Interpol würde höchstens uns zwei jagen, aber niemals Petrus oder Adam; du wirst sehen, nächstens stellen diese Herren uns, im Einvernehmen mit Noah, noch eine Honigpumpe ins Paradies, mit der wir den ganzen Honig der politischen Korrektheit hier heraufpumpen können, als ob so eine blödsinnige Pumpe irgendeine Auswirkung hätte auf Gerechtigkeit und Chancenausgleich und all das Zeug!“

„Und die Pumpe wäre bestimmt händisch zu bedienen“, wagte Maria zu behaupten und kicherte schon wieder (sie hatte wirklich einen ausgeprägten Galgenhumor), „was meinst du?“

„Ja“, sagte die Erste Frau und biss in einen der Äpfel vom Baum der Erkenntnis (das war jetzt auch egal, der Baum war ohnehin geschändet), „sie wäre sicherlich händisch zu bedienen – und zwar von uns, verlass dich drauf, von niemand anders als von uns beiden!“

(Mit einem Dankeschön an Christiane für ihre Einladung zu den abc-Etüden, diesmal die Nummer 1 mit den Wörtern „Interpol“, „Trabantenstadt“ und „Honigpumpe“, die wie immer in maximal 10 Sätzen unterzubringen waren. Es handelt sich um eine Fortsetzung meiner Maria-und-Petrus-Anekdoten.)

Die Farben des Himmels

Maria hätte es wissen müssen, dass Petrus in mancherlei Hinsicht nicht nur ein Korinthenkacker, sondern geradezu ein Quadratscheißer war. Warum hatte sie ihn bloß auf die Idee gebracht, die Uniformfarben weiter zu vereinheitlichen?

Jetzt hockte sie da, neben Eva, in dieser höchst überflüssigen Heiligensitzung, wippte mit den Zehen gegen eine Federwolke, rollte die Augen sternwärts und ärgerte sich über sich selbst.

„Faktisch ist grün nicht gleich grün“, dozierte Petrus gerade, „und rosa ist nicht rosa, das hat mir Maria dankenswerterweise klar gemacht.“ Sogar ihren Namen musste er erwähnen!

„Deshalb wollen wir jetzt postfaktisch und ergebnisoffen darüber diskutieren, was genau künftig unter den Farben des Himmels zu verstehen sein soll.“

„Ich würde vorschlagen, wir halten uns an den RGB-Farbraum“, meldete sich Adam vorlaut zu Wort. „Für die männlichen Heiligen ein kräftiges Pink, RGB 255, 20, 147, damit jeder versteht, was ich meine, und für die weiblichen ein dunkles Olivgrün, zum Beispiel RGB 85, 107, 47. Das ist unauffällig und züchtig, wie es sich für weibliche Heilige gehört, nicht wahr, meine Damen?“, das sagte er mit einem hämischen Blick in Marias und Evas Richtung.

„Sorry, Eva“, flüsterte Maria ihrer Wolkennachbarin zu, „das habe ich wirklich nicht gewollt, und wenn du jetzt auswandern willst, ich bin auf jeden Fall dabei!“

(Mit einem Dankeschön an Christiane für ihre Einladung zu den abc-Etüden, diesmal die Nummer 1 mit den Wörtern „Quadratscheißer“, „postfaktisch“ und „ergebnisoffen“, die wie immer in maximal 10 Sätzen unterzubringen waren. Es handelt sich um eine Fortsetzung meiner Maria-und-Petrus-Anekdoten.)