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Fischstäbchen mit Pommis

Das Ahornblatt, das Thierry ihr unter die Nase hielt – er hatte es beim Spaziergang mit der Kindergartengruppe gefunden und nicht losgelassen, bis er endlich abgeholt wurde – erinnerte Ramona Bahmüller an ihre Beinahe-Schwiegertochter Désirée, die ihr zum 60. Geburtstag ein überdimensioniertes Kanada-Wappen gemalt hatte, ein rotes Wappenblatt vor dem Hintergrund einer angedeuteten Schneelandschaft, 1,80 mal 1,80 Meter groß, für die leere weiße Wand im Entrée von Ramonas und Walters Landhaus, wo es großartig ausgesehen hatte, denn Thierrys Mama hatte Geschmack und Talent gehabt und gewusst, was wo wie gut wirken würde.

Jetzt wartete das Gemälde neben selbstgemachter Marmelade und selbst eingelegten Gurken süß-sauer im Keller des Mehrfamilienhauses, in dem Ramonas kleine Zwei-Zimmer-Wohnung (dritter Stock, mittlere Tür) sich befand, auf bessere Zeiten, denn Ramona hatte kein freies Plätzchen dafür gefunden und die Wohnung, in die sie nach Walters Tod gezogen war, so minimalistisch wie möglich eingerichtet, um sich ein winziges Restgefühl der Weite und Großzügigkeit zu erhalten, das sie so liebte.

Ramona wusste, dass sie funktionieren musste, trotz der brennenden Einsamkeit, die ihre Seele aufzufressen drohte, trotz der Morgentränen, die sie, Johanniskrautextrakt hin oder her, täglich weinte, vor oder nach dem Zähneputzen, aber immer, bevor sie Thierry weckte, damit er rechtzeitig zum Kindergarten kam.

Sie fragte sich nicht, warum es sie und immer wieder sie traf; ihr war klar, dass sie auch viel Schönes und Wertvolles „getroffen“ hatte, und dass alle Menschen ihr eigenes Päckchen zu tragen hatten, aber trotzdem wusste sie manchmal nicht, wo die Kraft herkommen sollte, das zu schultern, was sie nun einmal schultern musste: da zu sein für Thierry, dessen Mama seine Geburt nicht überstanden hatte, für ihn da zu sein jetzt sogar ohne die Hilfe von Walter, ihrem Kraft- und Energiequell während der fast 35 Jahre ihrer Ehe, ihrem sicheren Hort, ihrem …

„Weinst du, weil Opa gestorben ist?“

„Weil Opa gestorben ist, und weil deine Mama gestorben ist, und weil dein Papa jetzt diese Chinareise machen muss für seine Firma,“ antwortete Ramona, die hier, in der fremden Stadt, in die sie ihrem Sohn Christian zuliebe aus dem vertrauten Schwarzwalddorf umgezogen war, niemanden kannte und mit niemandem reden konnte als mit ihrem Enkelkind.

„Aber Opa lebt doch noch, wohl im Spiel“, versuchte der Fünfjährige, sie zu trösten, „und Mama auch, und Papa kommt, wohl im Spiel, nachher von der Arbeit wieder und isst mit uns zu Abend, du musst ihnen nur ein bisschen helfen zu reden, Oma!“

„Ja, stimmt“, bemühte sich Ramona mit Christians Stimme zu antworten, „ich bin schon da, mein Großer, und aus deinem Ahornblatt machen wir gleich was Schönes, wir beiden, und ich hab Fischstäbchen mitgebracht, die kann deine Mama uns braten, und der Opa holt solange eine Tüte Pommes frites aus der Tiefkühltruhe, die werfen wir in die Fritteuse und machen es uns gemütlich!“

„Au ja, Papa, wir kleben ein Bild, und dann essen wir Fischstäbchen mit Pommis“, spielte Thierry das Spiel mit, „und in der Nacht darf ich dann zu dir und zur Mama ins Bett krabbeln, wenn ich Albträume habe, nicht wahr, Oma, und du machst dann Mama und Papa reden, und dann schlafen wir beide wieder ein.“

Ramona schluckte hart, sagte mit tiefer Christian-Stimme, „na klar, mein Sohn“ und nahm ihn mit in den Vorratskeller, um Fischstäbchen und „Pommis“ aus der Gefriertruhe zu holen.

(Mit einem Dankeschön an Christiane für ihre Einladung zu den abc-Etüden, diesmal die Nummer 1 mit den Wörtern „Ahornblatt“, „Chinareise“, „krabbeln“, die wie immer in maximal 10 Sätzen unterzubringen waren. Diesmal handelt es sich übrigens um meine eigene Wortspende.)

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