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Nachhaltigkeitsmarkt

Die Leute vom Letzte-Wünsche-Mobil des Arbeiter-Samariter-Bundes hatten seinen Wunsch abgelehnt, aber Herr Weniger wollte nicht aufgeben.

Er sortierte seine Sachen für den veganen Nachhaltigkeitsflohmarkt, der nach den Feiertagen am Rathausplatz stattfinden sollte. Da waren die veganen Vanillekugeln, die eine Bäckereiverkäuferin ihm in den Hut geworfen hatte. Ihr Verfallsdatum war nicht abgelaufen. War Zellophan nachhaltig? Und was, wenn jemand eine Nussallergie hatte? Egal. „Nüsse“ stand auf der Ingredienzienliste des Etiketts. Man musste nur lesen können. Nur.

Herr Weniger verdrängte seinen Hunger. Vanillekugeln waren nicht gut für …

Er teilte sich lieber den Brotrest mit der Jungratte, die ihn nachts im verfallenen Schuppen neugierig beäugte. Das war besser, als sie an seinem Bärenfell nagen zu lassen, obwohl die das für einen Leckerbissen zu halten schien. Er hatte das Tier entdeckt, als der erste Herbststurm tobte, und war ihm dankbar, weil es ihn von seiner Herbstdepression ablenkte.

Inzwischen war Herrn Wenigers Diagnose abgesichert. Die Prognose: schlecht. Und jetzt hatten Weihnachtszauber und Wintersonnenwende der Winterdepression Platz gemacht.

Schneeflocken wirbelten durch die Steinwüste der Großstadt, glitten über das Glatteis der Gehwege, glitzerten im reklamebunten Licht, dämpften das Rattern der S-Bahn, das Rauschen des Autoverkehrs, das Hundegebell und das Kinderlachen im nahen Park.

Was hatte Herr Weniger noch zu bieten? Das grüne Kuscheltier, das ein Kindergartenkind ihm auf seine Schlafbank gelegt hatte. Unberührt sah es aus, verpackt in plastikbeschichteten Karton mit Guckloch. Ob es zugelassen würde? Die Teekanne, verbeult, hässlich, würde es. Zum Markt kamen vor allem junge Frauen, die alles hatten und sich das Gefühl kaufen wollten, Menschen zu helfen, die in 500 Jahren am anderen Ende der Welt (vielleicht nie) leben würden. Ob sie für seine getragene Pudelmütze  etwas gäben? Für sein rattenbenagtes Bärenfell?

Herr Weniger fror und träumte stöhnend von dem letzten Glas mit richtig gutem Rotwein, das er vom Erlös kaufen wollte.

(Dies ist ein verspäteter Beitrag zu Christianes Adventüden, frei nach dem Spruch: „Und wenn das fünfte Lichtlein brennt …“. Verarbeitet sind die Schlüsselwörter „Armut, Bärenfell, Glatteis, Herbstdepression, Herbststurm, Hundegebell, Hunger, Jungratte, Kuscheltier, Nussallergie, Pudelmütze, Schneeflocken, Steinwüste, Teekanne, Weihnachtszauber, Wintersonnenwende“ in 300 Wörtern.)

 

 

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Firmennachfolge

„Der hat sich seine Pfründe gesichert“, murmelte Wolfgang, Justiziar und Testamentsvollstrecker der AS Messgeräte GmbH & Co. KG München. Er speicherte die Dateien, die er zuletzt heruntergeladen hatte, auf seinem Stick, fuhr das Betriebssystem des Firmenrechners hinunter und schaltete den Computer aus.
„Sagten Sie etwas, Herr Doktor Sauer?“, fragte die alte Dame, die als Sekretärin für Andreas Schullerus, den verstorbenen Firmenchef, gearbeitet hatte, und fingerte nach einer Zigarette.
„Lassen Sie die Zigarette in der Schachtel“, zischte Wolfgang sie an.
„Als Herr Schullerus noch lebte“ … 92 Jahre alt war er gewesen, der alte Fuchs, als er starb.
„Zigarette in die Schachtel“, wiederholte Wolfgang. „Und bringen Sie den Hund weg. In diesem Büro brauche ich keine Kuscheltiere.“
Die Frau fasste den Zwergpudel am strassbesetzten Halsband und steckte ihr Zigarettenetui in eine teuer aussehende Lederhandtasche, ehe sie ging.
„In fünf Minuten sind Sie wieder hier, Frau Petrescu. Allein.“ Wolfgang erhob sich ohne die elektrische Aufstehhilfe des mondänen Bürosessels, den Schullerus sich gegönnt hatte, und humpelte zum bodentiefen Fenster.
Verdammte Beinprothese!
Der Blick auf die Münchner City war von hier aus unschlagbar, aber die Häuser und Parks blieben heute in den gleichen Nebel gehüllt wie die Geschäftsprozesse der AS Messgeräte GmbH & Co. KG. Woher das Geld kam, das Schullerus einnahm, wohin er es fließen ließ, hatte der Justiziar eben entdeckt. Großlieferungen nach Libyen, Somalia, Sudan … Überweisungen in die Schweiz. Den Erben musste Wolfgang noch finden: einen gewissen Uwe Schneider.
Es gab Tausende davon. Es war sicher nicht der Uwe.
An der Wand gegenüber dem Schreibtisch, hinter einer verspiegelten Mahagonitür, befanden sich jede Menge teure Alkoholika. Wolfgang würde sie wegschütten lassen. Flüchtig nahm er das eigene Gesicht im Schrankspiegel wahr, die Brandnarben auf Wangen und Stirn, die dunkle Brille. Er fasste mit der linken Hand an den rechten – künstlichen – Ellbogen.
Verdammter Phantomschmerz!

(Zweite Geschichte nach den neuen Regeln für die abc-Etüden von Christiane: Nicht mehr 3 Wörter in 10 Sätzen sind zu einer Geschichte zu verbinden, die Drei-Impulswort-Geschichte muss jetzt maximal 300 Wörter lang sein. Außerdem sind die Impulswörter jetzt nicht mehr eine Woche lang gültig, sondern zwei Wochen lang. Sie lauten diesmal Pfründe, mondän und lassen und wurden gespendet von Bernd. Danke euch beiden für die Anregung!)

Eine Provokation zu viel

„Mit ‚knallvergnügt‘ meinst du ’stinkbesoffen‘.“ Simone sagte es ganz ruhig, nicht vorwurfsvoll, auch nicht traurig, und drehte sich nicht einmal zu Jean-Marc um, während sie die Tulpen in der viel zu schweren Kristallvase arrangierte. Jean-Marc hasste Simone für diese Ruhe, diese Gleichgültigkeit, er hasste auch die verdammten Tulpen und Simones widerliche Kristallvase, die sie aus ihrem Geburtsland mitgebracht hatte, damals, vor zehn oder zwölf Jahren, als sie mit ihren Eltern und Geschwistern ausgewandert war, lange nach dem EU-Beitritt dieses ihres Herkunftslandes. Er merkte sich nie, welches Land das war – Bulgarien, Rumänien, Ungarn oder sonst einer dieser unzivilisierten Staaten im östlichen Europa, die er nie im Leben freiwillig besuchen würde.

„Auf deine Scheißkommentare kann ich verzichten“, lallte er in die Rippen seines Unterhemdes, während er es sich über den Kopf zog, ohne die Bierflasche aus der Hand zu legen.

Er wusste nicht, ob Simone seine Antwort gehört hatte, und es war ihm auch egal, die ganze Simone war ihm egal, ihre knallsaubere und knallaufgeräumte Wohnung, ihre knallnüchternen Freundinnen und Verwandten, die samt und sonders schon beim Rauch einer einzigen Zigarette die Nasen rümpften und pikiert schwiegen, wenn Jean-Marc versuchte, mit Simones Vater oder Bruder oder Vetter über wirklich spannende Themen wie Fußball oder Autos zu diskutieren, schnelle Autos, am liebsten knallrote, mit unendlich vielen PS unter der Haube und offenem Verdeck. Simones männliche Verwandte waren so langweilig wie sie, rauchten nie, tranken nicht, bevorzugten Marathonlauf und fuhren mit der Straßenbahn.

Hatte ihn damals ihr Blondhaar gereizt, das sie inzwischen schwarz hatte nachwachsen lassen, oder ihr Busen, der mittlerweile schlaff in Richtung Magen hing, hatte er sie nur beschützen wollen, weil sie so klein und zierlich aussah, wollte er vor allem vor den Kumpels mit ihr angeben, oder was, verdammich, hatte er sich dabei gedacht, als er mit ihr angebändelt hatte?

„Ich komme jedenfalls nicht mit zu deiner Fußballerfeier“, sagte sie so freundlich-neutral, dass er sie hätte schlagen mögen, was er noch nie getan hatte und niemals tun würde, nicht einmal in volltrunkenem Zustand, „du weißt genau, dass ich zum Fünfjahres-Jubiläum meiner Spezialmaschinenhandlung für heute die halbe Stadt eingeladen habe, seit Wochen reden wir davon, auch wenn ich nicht erwarte, dass du mich begleitest.“

Das war, fand Jean-Marc, eine Provokation zu viel von diesem eingebildeten Weib, und so kramte er mit unsicheren Wurstfingern (nicht jeder konnte schließlich das Zeug zu einem Pianisten haben wie Simones Vater) ihren Wohnungsschlüssel aus der Tasche seiner verbeulten Trainingshose, schmiss ihr ihn vor die Füße und verließ sie grußlos, nicht ohne die Wohnungstür so schwungvoll zukrachen zu lassen, wie sein schwankender Körper es zuließ.

(Mit Dank an Christiane und Anna-Lena, von der als Schreibanreiz diesmal die drei Wörter „Unterhemd“, „knallvergnügt“ und „verzichten“ gespendet wurden, die wie immer in zehn Sätzen zu verarbeiten waren.)