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Abschiedsminuten
Wilhelm stand mit dem Gesicht zum Fenster im Abschiedsraum des Universitätsklinikums und beobachtete ein Pfauenauge, ein Tagpfauenauge, um genau zu sein, das sich auf die schwarze Fensterbank verirrt hatte, und er beobachtete sich selbst dabei, dass er überlegte, ob es ein Falter der ersten Generation sein mochte – Juni bis August – oder einer der zweiten – August bis Oktober.
Es hatte keine Bedeutung.
Nichts hatte mehr eine Bedeutung, seit die Ärztin ihm die Plastiktüte mit Susannes Ehering übergeben hatte. Sie war nicht versiegelt, die Tüte, nur mit einem von diesen wiederverschließbaren Verschlüssen geschlossen worden, sie hatte sich ganz leicht öffnen lassen und lag jetzt leer auf der Innenseite der Fensterbank, von dem verirrten Pfauenauge nur durch das Isolierglas des Fensters getrennt. Es war kalt im Abschiedsraum, wenn auch nicht so kalt, wie es in dem Raum auf der Intensivstation gewesen war, in dem das namenlose medizinische Personal Susannes Temperatur so kühl wie möglich zu halten versuchte, um mit Hilfe des künstlichen Komas vielleicht noch irgendwelche Funktionen und Organe retten zu können.
Vergeblich.
Wilhelm konzentrierte sich eine Weile auf das Surren der Klimaanlage, während er registrierte, wie ein grauhaariges Pärchen Hand in Hand den Kiesweg des Krankenhausparks entlangspazierte. Nie mehr würde er mit Susanne so schlendern können, nicht einmal im Rollstuhl könnte er sie mehr schieben, wie er es noch vor fünf Stunden irrsinnigerweise gehofft hatte. Ab und zu kam die Augustsonne hinter einer flauscheweichen Wolke hervor, schickte blendende Strahlen zum Schmetterling und spiegelte sich in Susannes Ring, der jetzt an Wilhelms kleinem Finger steckte.
„Ich bin soweit“, sagte er nach einer gefühlten Ewigkeit zu niemand im Besonderen (es war niemand da) und nahm leicht verwundert wahr, wie er sich umdrehte, die sechs Schritte zur Tür hinter sich brachte, Susannes Hülle ein letztes Mal auf sich wirken ließ und, Fuß vor Fuß setzend, den Krankenhausflur entlang zum Ausgang strebte.
(„Pfauenauge, versiegelt, schlendern“ spendete diesmal Natalie für die abc-Etüden, zu denen Christiane eingeladen hat. Drei Wörter, aus denen wie immer in zehn Sätzen eine Geschichte zu basteln war. Lieben Dank an beide!)