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Hochhausgedanken

Die Feuerzangenbowle hatte Hernán nicht wirklich geholfen. Er hatte nur für ein paar Stunden die Einsamkeit vergessen, die Finsternis, die Kälte. Mehr nicht.

Die Freunde, die er für die Bowle eingeladen hatte, waren längst wieder gegangen, sie hatten gescherzt und gelacht und ihre Witze gerissen über Frauen, die leicht zu haben waren und Männer, die das nicht auszunutzen wussten, hatten gelästert über Quotenfrauen an der Universität, die eine Gefahr für die Wissenschaft darstellten, obwohl sie doch in Wahrheit nur heiraten und Kinder kriegen wollten, waren dann zu spannenderen Themen übergegangen, zu Fußballergebnissen und dem nächsten Tennistournier und den fragwürdigen Erhebungsmethoden eines Kollegen bei seiner letzten quantitativen Studie. Nichts davon hatte Hernán – Dr. habil. Hernán Garcia Romero – interessiert.

Er betrachtete wieder das Papier, das vor ihm lag, und das ihm bestätigte, dass seine akademische Karriere zu Ende war, er betrachtete es und knüllte es zusammen und sah ihm nach, wie es auf die Straße hinunter segelte, Stockwerk um Stockwerk, bis es unten in einer kaum wahrnehmbaren Winterpfütze landete.

Keine Universität hatte ihn zum Professor berufen, trotz ungezählter Probevorlesungen, trotz bester Beurteilungen, trotz all der mühsam erarbeiteten Veröffentlichungen in anerkannten wissenschaftlichen Publikationen. Nichts hatte gepasst, und nun war die letzte befristete Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter ausgelaufen, und keine neue war in Sicht, auch nicht außerhalb der Universität, denn nicht einmal Museen brauchten Spezialisten für die ernährungsbedingten Fortpflanzungsprobleme der Flugsaurier.

Auch Maria mit den Kindern war nicht mehr da, sie hatte ihre Professur für Allgemeine Didaktik (mit Schwerpunkt Inklusion hochbegabter Kinder aus ökosozial benachteiligten Familien) in Madrid angetreten, und sie hatte ihn angefleht, mitzukommen, sie verdiene genug für die Familie, der Rest würde sich finden, und die Kinder bräuchten ihren Vater.

Aber die Kinder, fand Hernán, verdienten einen Vater, der ihnen zum Vorbild gereichen konnte, keinen Versager wie ihn, da waren sie besser dran, wenn sie nur bei Maria aufwuchsen, wenn sie glaubten, dass er in Deutschland ein wichtiger Mann war, auch wenn ihn das all dessen beraubte, was er brauchte und liebte, deshalb war er nicht mitgefahren, deshalb stand er jetzt hier am Rand des fünfzehnstöckigen Hochhauses und überlegte, ob er springen sollte, und deshalb hasste er sich dafür, dass er es nicht tat, weil er zu feige war, dass er stattdessen Michael anrief und ihm vorschlug, wie früher um die Häuser zu ziehen, und dass er sich einfach ins Bett legte und die Decke über den Kopf zog, als Michael dankend ablehnte.

(Eigentlich hatte Christiane die Etüdenwörter, aus denen ich mich für diese Zehn-Satz-Etüde bedient habe, für die Vorweihnachtszeit bestimmt, in der ich aber leider zu krank war, um mich neben den Weihnachtsvorbereitungen ums Bloggen zu kümmern – abends und morgens war ich einfach so müde, dass ich nur noch schlafen konnte und wollte. Daher versuche ich jetzt, aus der Wortreihe Reizwörter für nachweihnachtliche Geschichten zu fischen und bitte um Nachsicht dafür. Hier ist die Geschichte Nummer 3.)

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Januarstollen

„Magst du noch ein Stück Christstollen?“

Nicki sah aus dem Fenster in den verregneten Januartag hinaus, der noch vor der kleinen Birke am Gartenzaun im Nebel verschwamm. Die Welt versank, genau wie Nicki selbst, im winterlichen Blues, in einer Melancholie, einer nicht enden wollenden Traurigkeit, von der Nicki langsam befürchten musste, dass sie in eine Depression münden würde. Und sie wusste zu gut, was das bedeutete.

Sie müsste sich ihr Trainingszeugs anziehen und joggen gehen, hinaus in den Nieselregen, eine Stunde oder besser zwei, aber sie hatte nicht mehr genug Willenskraft, das auch zu tun.

Aber Christstollen?

Ihr Magen rebellierte gegen den ganzen Süßkram, den sie seit Ende November von ihrer Tante Evelyn, ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrer alten Nachbarin bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit vorgesetzt bekam, gegen die Nikoläuse und Schokoschneemänner, die Dominosteine und Vanillekipferl, die Lebkuchen und den Spekulatiuspudding, in dem die letzten Keksreste „sinnvoll“ verwertet worden waren.

Warum nur glaubten alle, mit dieser Zuckertherapie sei ihr geholfen? Gian-Luca würde nicht wiederkommen, er würde nie erfahren, dass ihr Magen nicht nur wegen des Zuckers rebellierte, dass es keineswegs nur der Magen war, dass sein sehnlichster Wunsch sich erfüllt hatte.

Es war nicht Nickis Wunsch gewesen, dieses Kind, das in ihr wuchs, aber sie wusste, jetzt, da es Gian-Luca nicht mehr gab, würde sie es nicht über sich bringen, es nicht zu bekommen oder nicht zu behalten, und sie hoffte nur, sie würde es lieben und ihm gerecht werden können, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie das schaffen sollte.

(Eigentlich hatte Christiane die Etüdenwörter, aus denen ich mich für diese Zehn-Satz-Etüde bedient habe, für die Vorweihnachtszeit bestimmt, in der ich aber leider zu krank war, um mich neben den Weihnachtsvorbereitungen ums Bloggen zu kümmern – abends und morgens war ich einfach so müde, dass ich nur noch schlafen konnte und wollte. Daher versuche ich jetzt, aus der Wortreihe Reizwörter für nachweihnachtliche Geschichten zu fischen und bitte um Nachsicht dafür. Hier ist die Geschichte Nummer 2.)