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Rosa Wolken
„Wegrennen müsstest du“, empfiehlt der Schmerz.
„Nein. Du gehörst ins Mauseloch, ganz tief hinten hinein, in ein Versteck, in dem dich keine Katze findet“, widerspricht der Kummer.
„Du musst schreien, das hilft“, sagt die Traurigkeit.
„Genau. Und einen Sandsack hauen“, schreit die Wut.
„Nein“, beharrt der Schmerz, „du musst rennen, rennen, rennen. Rennen, bis du nicht mehr kannst. Bis die Puste dir ausgeht. Bis du zusammenbrichst und nur noch Sterne vor den Augen siehst.“
„Ja“, stimmt das Leid zu. „Rennen hilft. Aber weit weg muss es sein. Irgendwohin, wo niemand dich kennt, wo die Sonne scheint, wo nichts mehr wehtun kann.“
„Hilft nicht“, meldet sich wieder der Kummer. „Versteck dich einfach in der Badewanne. Schließ ab, damit niemand dich stören kann. Lass warmes Wasser über dich fließen und denk an nichts. Wenn du das nicht kannst, lies ein Buch und denk an die Probleme anderer Menschen.“
„Quatsch! Du musst funktionieren. Alles andere ist nicht wichtig“, schimpft aus dem Hintergrund die Pflicht. „Du bist schließlich nicht allein auf der Welt. Du hast gesunde Arme und Beine und Augen und Ohren und Hände und überhaupt, du hast ein Dach über dem Kopf und genug zu essen, was willst du eigentlich?“
„Du gehörst ins Bett“, bestimmt die Depression, „du kannst sowieso nicht arbeiten. Und ob du etwas isst oder nicht, kann dir egal sein. Wer nicht arbeitet, muss auch nicht essen.“
„Blödsinn“, brüllt der Hunger aus der Küche, „essen ist wichtig! Viel Zucker, das hilft! Eis wäre gut. Und Schokolade. Und Kuchen.“
„Du solltest ein wenig lustiger sein“, flüstert die Lebensfreude, wird aber sofort vom Selbstmitleid und der Angst ausgemobbt, wie immer, wenn sie versucht, sich mit ihrem leisen Stimmchen in die Diskussion einzubringen. Brutal tritt ihr die Verzweiflung gegen das Schienbein, leert ihr den spärlich gefüllten und abgegriffenen rosa Ranzen aus und dreht ihr die mageren Arme auf den Rücken.
„Also bleiben wir unten?“, fragen die Jalousien.
„Also deckt mich niemand für den Tag um?“, erkundigt sich das Bett.
„Ich weiß nicht“, sagt der Verstand, „ich kann euer Chaos nicht mehr ordnen.“
„Das stimmt auffällig“, bestärken ihn die Tränendrüsen, „da hilft nur eine gründliche Feuchtreinigung.“
„Es gibt keine Antworten“, verkündet die Todessehnsucht. „Aber es gibt ein Ende.“
„Auf jeden Fall“, traut sich die Lebensfreude nicht auszusprechen, „nur noch nicht jetzt.“
Und heimlich, still und leise holt sie ihre alte Sprühdose aus dem Versteck in der Seitentasche ihres in die Ecke geworfenen Ranzens und sprüht rosa Wolken in den Raum, die für einen kurzen Moment nach Sommer und Vanille duften, ehe die Nacht sie erstickt.
Wehrlos
Die Depression war eine Wanderdüne, die das Meer des Lebens Mareike in die Seele gespült hatte, damals, als Joanna anrief, um ihr zu sagen, dass Julius heute nicht heimkommen würde, dass er nie wieder heimkommen würde, weil er heimgegangen war, heim ins Meer, das er so geliebt hatte, manchmal, dachte Mareike, mehr geliebt als sie, seine Ehefrau, vielleicht sogar mehr als Juliane, ihre gemeinsame Tochter, die jetzt irgendwo in Paraguay oder Venezuela wohnte, immer abwechselnd, und die sich nur alle paar Monate über diesen neumodischen elektronischen Kurznachrichtendienst meldete – „alles okay, Mama, hoffe, bei dir auch“ – und Schluss …
Dabei hatte sich Mareike an dem Tag so pudelwohl gefühlt in ihrer Haut, pudelwohl im wahrsten Sinn des Wortes, weil sie sich endlich dazu durchgerungen hatte, die Pudeldame Fiffi von deren Züchterin abzuholen, um nicht mehr so allein zu sein in den langen Nächten, die Julian auf See verbrachte und Juliane, damals noch ein Teenager, in Diskos durchtanzte oder auf LAN-Partys durchspielte, durchchattete, was wusste Mareike schon von der Welt ihrer Tochter, die so anders war, als es ihre eigene in deren Alter gewesen war.
Schwer und getränkt von Tränen hatte sich die Traurigkeit im Getriebe ihres Lebens festgesetzt wie feiner, nasser Sand, hatte das Räderwerk ihres Alltags zum Stillstand gebracht, ihre Hoffnungen gelöscht, ihre Träume und Pläne mit einem unhörbaren Hyperknall zum Platzen gebracht, von jetzt auf gleich, einfach so. Irgendwann, viel später, versiegten die Tränen, und Mareike spürte wieder die leichten Brisen, die das Meer übers Land schickte, um den Strandhafer zu streicheln, nur dass sie es versäumt hatte, sich zum Schutz vor der wandernden Düne rechtzeitig Strandhafer vor die Seele zu pflanzen, sie war kein Kind der See, nur eine Landratte, die das Meer wie Treibholz ans Ufer gespült hatte, um sie dort achtlos, aber noch lebendig liegenzulassen.
Nach und nach trockneten die Millionen Sandkörner der Trauer im Getriebe ihrer leer gewordenen Tage, und jeder kleine Wind trieb sie tiefer und tiefer in ihr schutzlos brach liegendes Inneres, aus dem die Tränenströme alles davongetragen hatten, was an Julian (und auch an Juliane) erinnerte. Selbst Fiffi schaffte es bald nicht mehr, gegen die Wellen der Sinnlosigkeit anzubellen, die immer häufiger aus dem Nichts erwuchsen, um in Mareike jeden Lebensmut zu überfluten und zugrunde zu richten.
Jetzt also gab es auch Fiffi nicht mehr, vergiftetes Fleisch hatte ihr jemand gegeben, jemand, der freie Hand brauchte, um Mareikes Erdgeschosswohnung nach Wertsachen zu durchwühlen, vergeblich zu durchwühlen, weil da nichts war, und sie hinterher aus Wut darüber so zu verwüsten, dass sie für Mareike auf Wochen hinaus fast unbewohnbar wurde. Selbst für die Morgentränen zwischen Frühstück und Zähneputzen war Mareike danach zu müde geworden, und mit dem Schreiben der Morgentexte in ihrem Tagebuch hatte sie schon lange aufgehört.
Stumm saß sie da, starrte aufs Meer und spürte dem Brennen in ihrem Körper nach, der so hohl war wie ein Gefäß, dessen Inhalt jemand in den Ausguss gekippt hat, hohl, verschmutzt und von innen her wund, eine einzige entzündete, nicht heilende Verletzung, aber es gelang Mareike nicht mehr, sich zu freuen, dass sie überhaupt noch etwas spürte. Sie wusste, dass die Wanderdüne schon da war, dass sie das Haus ihres Lebens zerquetschen würde, unaufhaltsam, mit grausamer Langsamkeit, und dass sie, Mareike, machtlos darauf warten würde, weil sie nicht mehr wusste, warum sie sich dagegen wehren sollte.
(Mit einem Dankeschön an Christiane für ihre Einladung zu den abc-Etüden, diesmal die Nummer 1 mit den Wörtern „Hyperknall“, „Wanderdüne“, „pudelwohl“, die wie immer in maximal 10 Sätzen unterzubringen waren.)