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Bühne frei

Die Bühne ist leer. Leer wie die Bäume des Freilichttheaters, die sie umgeben. Dürres Laub liegt auf den Stufen, die ehemals Sitzplätze waren, durchnässt und matschig fault es vor sich hin. Ein Geruch nach Moder liegt in der Luft, der Wind peitscht die Regenschnüre wie Nadeln in die Haut. Sturmwolken jagen einander über den Himmel, die Nacht sinkt zu früh auf die Landschaft. Kein Mond wird sie erhellen, keine Sterne funkeln durch die Wolkendecke.

Ein Fuchs streicht einsam zwischen den Büschen hindurch. Zweige biegen sich, ohne zu knacken. Nass sind sie, geschmeidig, unfähig zum kleinsten Geräusch. Eine Eule schreit ihr dumpfes Schuhu in die Dunkelheit. Schwarz liegt die Bühne am Boden des Theaterrunds, kein Lichtschimmer flirrt über die Wasserfläche, die sich darauf kräuselt. Als die Eule mit kaum hörbarem Flügelschlag die Szene verlässt, drängt sich das Rauschen der Autobahn in den entleerten Vordergrund, mischt sich mit dem Strömen des Herbstregens.

Es wird keinen Schnee geben. Die Temperaturen halten sich knapp, aber zuverlässig gerade so weit über dem Nullpunkt, dass die weißen Sterne graue Tropfen bleiben. Nichts wird das Bühnenbild verzaubern, nichts gnädig seine Öde verdecken. Kein Schauspieler kommt aus den Kulissen, keine Sängerin traut sich in die Kälte, niemand schaut dem ausbleibenden Schauspiel zu. Nur eine Schnecke versucht von der untersten Stufe aus nach oben zu gelangen. Und wieder heult die Eule.

Sonst geschieht nichts.

(Dieser Beitrag beruht auf einem Schreibimpuls, den ich dem Online-Workshop „Schreibrausch 2020“ von Dr. Eva-Maria Lerche verdanke, an dem ich sehr gern teilgenommen habe.)

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Und wenn schon!

Es war nicht die Sonne, die Codrutas Haar letztlich doch gebleicht hatte. Und nein, blond geworden war es davon nicht, und silbrig schimmernde Locken würden auch nie daraus werden. Eher sahen die Strähnen aus wie schmutziger Schnee auf einem Feldweg im Frühling, fahles Grau in glanzlosem Schwarz.

Die alt werdende Frau betrachtete sich nachdenklich im spiegelnden Schaufenster des Ladens, der irgendwann in den letzten drei Wochen eröffnet worden sein musste, als sie in der Sommerküche von Erzsébet gegen ihre Grippe ankämpfte. Erzsébet war alt, mindestens neunzig, und nein, sooo alt war Codruta noch nicht. Sah man ihr das an? Dass sie dreißig Jahre jünger war als Erzsébet?

Die Grippe hatte weitere Falten in Codrutas hageres Gesicht gegraben. Neue Altersflecken schienen sich auf ihren Handflächen auszubreiten. Codruta wollte nicht überlegen, ob das auf Hautkrebs hinwies. Grübeln hatte noch nie jemandem geholfen.

Sie war eine harte Frau, hart im Nehmen, „stark“, sagten manche, „eiskalt“ fanden andere ihre Art. Vielleicht, weil es ihr nicht lag, „süße“ Tierlein auf den Schoß zu holen oder fremder Leute Babys zu knuddeln. Ihre eigene Tochter hatte sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Ob sie Kinder hatte?

***

„Knuddeln“. Was für ein idiotisches Wort. So doof wie „Frauchen“ oder „Gassi gehen“. Codruta hasste Verniedlichungen. Sie hasste Erzsébets Zwergspitz und sein widerliches Gebell, sein weißes „Fellchen“, die „Leckerlis“, die Erzsébet ihm immer zusteckte. Sie hasste auch Erzsébets „Miezekatze“ (– miez-miez! – Jere ide (komm her)!).

Seit ihre Mutter – Mamica – gestorben war, verabscheute Codruta die Viecher, diese ekligen Wesen, die mit ihren Knopfaugen alle Menschen verrückt machten.

Viecher wie den Zwergspitz Fifirica und die Siamkatze Miuta, die ihr Vater und ihre Stiefmutter mitnahmen, als sie Codruta bei der Nachbarin zurückließen.

Weil Codrutas Haar nicht so blond war wie das ihrer Stiefmutter? ihre Augen nicht so katzengrün?

***

Pfff. Und wenn schon.

(Danke an Christiane, die diese abc-Etüden betreut, und an Alice, die diesmal die Reizwörter – Grippe, gebleicht, knuddeln– gespendet hat. Wie immer waren die 3 Begriffe in maximal 300 Wörtern zu einem sinnvollen Text zu verbinden.)

Nachhaltigkeitsmarkt

Die Leute vom Letzte-Wünsche-Mobil des Arbeiter-Samariter-Bundes hatten seinen Wunsch abgelehnt, aber Herr Weniger wollte nicht aufgeben.

Er sortierte seine Sachen für den veganen Nachhaltigkeitsflohmarkt, der nach den Feiertagen am Rathausplatz stattfinden sollte. Da waren die veganen Vanillekugeln, die eine Bäckereiverkäuferin ihm in den Hut geworfen hatte. Ihr Verfallsdatum war nicht abgelaufen. War Zellophan nachhaltig? Und was, wenn jemand eine Nussallergie hatte? Egal. „Nüsse“ stand auf der Ingredienzienliste des Etiketts. Man musste nur lesen können. Nur.

Herr Weniger verdrängte seinen Hunger. Vanillekugeln waren nicht gut für …

Er teilte sich lieber den Brotrest mit der Jungratte, die ihn nachts im verfallenen Schuppen neugierig beäugte. Das war besser, als sie an seinem Bärenfell nagen zu lassen, obwohl die das für einen Leckerbissen zu halten schien. Er hatte das Tier entdeckt, als der erste Herbststurm tobte, und war ihm dankbar, weil es ihn von seiner Herbstdepression ablenkte.

Inzwischen war Herrn Wenigers Diagnose abgesichert. Die Prognose: schlecht. Und jetzt hatten Weihnachtszauber und Wintersonnenwende der Winterdepression Platz gemacht.

Schneeflocken wirbelten durch die Steinwüste der Großstadt, glitten über das Glatteis der Gehwege, glitzerten im reklamebunten Licht, dämpften das Rattern der S-Bahn, das Rauschen des Autoverkehrs, das Hundegebell und das Kinderlachen im nahen Park.

Was hatte Herr Weniger noch zu bieten? Das grüne Kuscheltier, das ein Kindergartenkind ihm auf seine Schlafbank gelegt hatte. Unberührt sah es aus, verpackt in plastikbeschichteten Karton mit Guckloch. Ob es zugelassen würde? Die Teekanne, verbeult, hässlich, würde es. Zum Markt kamen vor allem junge Frauen, die alles hatten und sich das Gefühl kaufen wollten, Menschen zu helfen, die in 500 Jahren am anderen Ende der Welt (vielleicht nie) leben würden. Ob sie für seine getragene Pudelmütze  etwas gäben? Für sein rattenbenagtes Bärenfell?

Herr Weniger fror und träumte stöhnend von dem letzten Glas mit richtig gutem Rotwein, das er vom Erlös kaufen wollte.

(Dies ist ein verspäteter Beitrag zu Christianes Adventüden, frei nach dem Spruch: „Und wenn das fünfte Lichtlein brennt …“. Verarbeitet sind die Schlüsselwörter „Armut, Bärenfell, Glatteis, Herbstdepression, Herbststurm, Hundegebell, Hunger, Jungratte, Kuscheltier, Nussallergie, Pudelmütze, Schneeflocken, Steinwüste, Teekanne, Weihnachtszauber, Wintersonnenwende“ in 300 Wörtern.)

 

 

Weiße Weihnacht

Nie hatte Herr Molinar verstanden, warum seine Rose sich zu Weihnachten Schnee wünschte, denn er selbst vermisste die Sonne und den Strand. Immer noch. Nach achtzig Jahren Nordhalb­kugel. Kindheitserfahrungen ließen sich nicht so leicht auslöschen.

Herr Molinar fröstelte. Es war kalt, nass und windig. Ungemütlich kalt, aber nicht kalt genug für Schnee. Herr Molinar stand am Fenster und sah den kahlen Bäumen zu, die ihre spitzen, schwarzen Äste windgebeutelt in den Himmel stachen. In einen Himmel ohne Farbe und Struktur, aus dem unablässig der Winterregen tropfte. Seit Tagen schon. Oder waren es Wochen? Manchmal peitschte der Wind das Wasser in Schnüren vor sich her wie heute, manchmal sickerte es einfach durch die Luft und durchdrang die ganze Welt.

Auf der Fensterscheibe sammelten sich die Regentropfen und rannen in kleinen Bächen abwärts, seltsam schräge Wege sich bahnend, bis sie sich im Nichts des Glases verloren oder unten am Fensterrahmen sammelten. Regenbäche. Tränenbäche des Himmels.

Herr Molinar hatte keine Tränen mehr. Er hatte sich leer geweint in den letzten Wochen, in den letzten Monaten. Wie viele Wasserflaschen hatte er ausgetrunken, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen? Er wusste es nicht mehr, er hatte nicht mitgezählt. Aber er wusste, dass der Vorrat im Keller fast aufgebraucht war. Für das Auffüllen des Vorrats war Rose verantwortlich gewesen. Sobald der Vorrat aufgebraucht war, würde Herr Molinar das Wasser aus dem Hahn trinken. Es war gutes Wasser, und Herr Molinar hatte das Sprudelwasser, das Rose bevorzugte, ohnehin nicht so gern gemocht wie sie.

Niemand hatte Herrn Molinar je weinen gesehen. Wie auch? Herr Molinar lebte allein, sein Haus war kilometerweit entfernt von den zwei nächsten Nachbarhäusern. Seit er nicht mehr Auto fuhr (er würde Roses Wagen demnächst verkaufen müssen) und die Balance auf dem Fahrrad nicht mehr halten konnte, kam er nicht so einfach in die Stadt. Und niemand kam zu ihm heraus. Bei den Videotelefonaten mit der Tochter zeigte er sich stark, das war er seinem Mädchen schuldig. Sie konnte und sollte nicht von Amsterdam in seine Eifel-Wildnis reisen, um ihm beizustehen. Er wollte das nicht. Er schaffte es allein.

Marita hatte ihre Tochter, ihre Enkelkinder, ihren Mann, und dazu immer noch ihren Beruf, ihre Aktivität in der Friedensbewegung. Das war mehr als genug für einen einzelnen Menschen. Sie sollte sich nicht zusätzlich um ihren alten Vater sorgen. Manchmal wirkte sie recht müde am Bildschirm. Herr Molinar erinnerte sich noch gut an seine eigenen letzten Jahre vor dem Ruhestand. Es war nicht einfach gewesen, mit den jüngeren Kollegen mitzuhalten.

„Bist du an Heiligabend bei uns?“ fragte Marita bei ihrem vorletzten Videotelefonat.

„Nein“, sagte er, „bei euch ist mir ein wenig zu viel Trubel, sei mir nicht böse.“

„Wie du willst“, sagte sie. „Ich dachte ja nur. Ich hätte dich gern hier gehabt, das weißt du hoffentlich. Mareike und ihre Familie sind auch da, zugegeben, und ihre Mädels sind vielleicht wirklich ein bisschen wild.“ Mareike war Herrn Molinars Enkelin und Maritas Tochter.

„Ich weiß“, sagte er. Marita sollte nicht einmal daran denken, dass er sich vor der Bahnfahrt nach Amsterdam fürchtete. Und sie sollte nicht wissen, dass er sie schonen wollte.

Rose hatte diese Bahnfahrten immer organisiert. Sie besorgte die Fahrkarten im Internet, sie packte die Koffer, sie bestellte den Haus-zu-Haus-Service, sie dachte an alles. Sie fand sich auf den fürchterlichen Baustellen zurecht, die sich heutzutage Bahnhöfe nennen, sie fand immer auf Anhieb die reservierten Sitzplätze und vergaß niemals, die Karten mitzunehmen und ihren Personalausweis einzustecken. Sie dachte auch an Herrn Molinars Ausweise. Sie hatte immer alle Medikamente dabei, und sie wusste, wo sie selbst und Herr Molinar die Krankenkassen-Karten hatten.

Zugegeben: Wenn Herr Molinar nachdachte, wusste er es meistens auch. Er war zu Recht stolz auf sein immer noch gutes Gedächtnis. Und er konnte auf Roses Checklisten zurückgreifen. Seine Augen waren noch gut genug, um ihre klare, große Handschrift lesen zu können. Sie hatte mit schwarzen Stiften geschrieben, weil sie zum Lesen starke Kontraste brauchte, wegen ihrer Makula-Degeneration. Das kam jetzt auch Herrn Molinar zugute, obwohl er sich das nicht so gern eingestand. Starke Kontraste halfen definitiv beim Sehen.

Er dachte in letzter Zeit oft an den Traum, den er jahrelang immer wieder in abgewandelter Form geträumt hatte, nachdem er schon lange mit Rose zusammengekommen war. Es war kein echter Albtraum gewesen, er hatte sich sogar ein bisschen tröstlich angefühlt, und doch …

In dem Traum war er wieder allein, ohne Rose, wie zu der Zeit, bevor er mit ihr zusammengekommen war, und er konnte alles machen, was er früher gemacht hatte. Er traf sich mit Freunden, er lachte mit ihnen, er grillte mit ihnen, er scherzte mit ihnen und probierte neue Backrezepte aus, für sich und seine Freunde, und er ging diszipliniert seiner Arbeit nach. Herr Molinar war Gärtner. Nein, nicht gewesen: Gärtner blieb man sein Leben lang, fand Herr Molinar. Es war nicht einfach ein Beruf wie jeder andere.

„Einmal Gärtner, immer Gärtner!“, sagte er oft. Es war nicht wirklich schrecklich, dass Rose nicht mehr da war, fand Herr Molinar in seinen Träumen. Es ging alles auch ohne sie. Es war nur … es war … es war eben keine Rose mehr da. Wie schön es gewesen war, dann aufzuwachen und Rose neben sich zu sehen!

„Was wünschst du dir zu Weihnachten?“ Maritas Frage beim vorletzten Telefonat machte es Herrn Molinar schmerzlich bewusst, dass es diesmal kein Aufwachen gab wie sonst.

„Deine Mama soll wieder da sein“, sagte er. Maritas Schweigen in der Leitung war schwerer zu ertragen als ihre verspätete Antwort.

„Du weißt, dass das nicht geht, Papa.“

„Ich weiß.“ Von dort, wo Rose jetzt war – zumindest hoffte Herr Molinar, dass sie irgendwo war, dass es sie irgendwie noch gab – von dort kam niemand zurück.

Niemals wieder würde Herr Molinar in ihrer gemeinsamen Wohnküche für sie kochen oder backen, niemals mehr würde er mit ihr über den Kater Karle lachen und ihm schimpfend verbieten, lebendige Mäuse von der Terrasse ins Esszimmer zu schleppen. Niemals würde er sie wieder bitten, die alte Hündin nicht unter dem Tisch mit Leckerbissen zu mästen und sich nie wieder mit ihr darum kabbeln, wer dran war, die Dusche sauberzumachen.

Meist hatte Herr Molinar diese Kabbelei verloren. Er wusste, dass er viel öfter duschte als Rose, die lieber badete, also war es nur recht und billig, dass er auch öfter die Dusche schrubbte. Es fiel ihm nur zunehmend schwerer, und Rose war noch so jung! Sie bückte sich, ohne zu ächzen, sie rannte jeden Morgen bis zur Nachbarin und mit ihr dann noch fünf Kilometer durch den Wald, sie fuhr, wenn es sein musste und zu viel Gepäck zu schleppen gewesen wäre, noch hunderte Kilometer allein mit dem Auto, sie erledigte die Post und den Einkauf, führte den Geburtstagskalender und fütterte die Tiere. Sie mähte sogar den Rasen, wenn Herrn Molinars Rücken mal wieder nicht so wollte wie Herr Molinar es gern gehabt hätte, und sie schnitt nach seiner Anweisung die Hecke, die zwei Meter hoch das Grundstück einfriedete.

Klar, all das konnte Herr Molinar selbst, wenn er gerade keine Schmerzen hatte und wenn er nicht vergaß, was noch alles zu tun war. Er hatte es vor sechzig Jahren auch gekonnt, ehe er Rose kennenlernte. Sie wusste vieles damals noch nicht, aber sie lernte schnell.

„Ist doch gar nicht schwer, mein Kürbis“, sagte sie oft.

Als sie ihn zum ersten Mal „Kürbis“ nannte, war er beleidigt.

„Wieso Kürbis?“ fragte er.

„Weil du so aussiehst“, sagte sie und lachte. „Orange Haare, oranger Anzug, rundum rund und unten dran ein Doppelstiel. Ich liebe Kürbisse! Und ich liebe dich!“

Den orangen Anzug trug er damals, weil er bei der Autobahnmeisterei arbeitete und für die Gärtnerarbeit am Mittelstreifen von Autobahnen zuständig war. Eine gefährliche Arbeit. Mehr als einen Kollegen hatte es während der vielen Jahre seiner Tätigkeit dort erwischt. Einer war von einem Lastwagen gestreift worden, ein anderer hatte den Crashkurs eines Ferraris nicht überlebt, ein weiterer war unter die Räder eines wild gewordenen Busses geraten. Herr Molinar selbst war auch einmal in einen Unfall verwickelt gewesen, ein Motorrad durchbrach damals die Leitplanke, aber er war mit Rippenbrüchen und einer leichten Gehirnerschütterung davongekommen. Danach ging er die restlichen fünf Jahre jeden Tag mit Angst an seinen Arbeitsplatz.

Dreißig Jahre war das inzwischen wieder her, unglaublich! Dreißig Jahre lang im eigenen Garten, ohne Angst vor rasenden Autos, ohne ihren ständigen Lärm in den Ohren. Herr Molinar genoss die Stille, die im Sommer hinter den Vogelstimmen und dem Grillenzirpen wohnte, irgendwo jenseits des Gartenzauns an den grünen Hängen der Berge.

Grüngrau sahen sie jetzt aus. Schmutziggrau. Rose hasste die Eifel in schneelosen Wintern.

„Wie begraben ist man hier!“, sagte sie immer. „Ich will das nicht! Ich will raus hier – ich fühle mich noch nicht alt genug für diesen Friedhof!“ Und dann fuhren sie, ganz spontan, nach Köln oder Koblenz, nach Luxemburg oder wenigstens nach Bad Münstereifel. Rose liebte den Trubel der Städte, die Einkaufsstraßen, die Lichter, die Theater, Konzert- und Ballettvorstellungen. Sie ging gern in Vorträge oder trank einfach einen Latte macchiato in einem netten Café. Nur zwanzig Jahre war sie älter als ihre gemeinsame Tochter Marita, und sie war ständig aktiv und „fit wie ein Turnschuh“, wie die Nachbarin zu sagen pflegte, mit der sie jeden Morgen joggte.

„Ihre Frau steckt mich locker in die Tasche mit ihrem Tempo, Herr Molinar, obwohl ich fünfzehn Jahre jünger bin als sie“, behauptete sie einmal, und Herr Molinar konnte sich das gut vorstellen. Es passte zu Rose. Als Ballettlehrerin musste sie immer fit sein und immer fit bleiben, und bis zuletzt hatte sie einzelnen Schülerinnen in Bad Münstereifel das Tanzen beigebracht. Auch Ballettlehrerin war kein Beruf wie jeder andere, fand Herr Molinar.

Er hatte nie mit seiner Frau getanzt.

„Macht nichts“, sagte sie, „du bist doch mein Kürbis. Und Kürbisse tanzen nicht. Aber sie sind süß! Tänzer habe ich genug, wo immer ich hinkomme. Aber einen Kürbis wie dich gibt es nur einmal.“

Nie wieder würde jemand „Kürbis“ zu ihm sagen, und niemand wusste um diesen Spitznamen, nicht einmal Marita.

„Kürbis“, murmelte Herr Molinar in seinen Bart und beobachtete weiter die Tropfen, die am Fenster zu Regenbächlein zusammenflossen. Der weiße Bart war ein wenig verschmiert vom gestrigen Frühstücksei und dem Spinat, der heute Mittag bei „Essen auf Rädern“ dabei gewesen war. Das hätte Rose nicht geduldet.

„Kürbis“, hätte sie gesagt, „du musst deinen Bart sauber machen. Der Postbote braucht nicht zu wissen, was du gegessen hast!“

Sein Vater früher formulierte ähnliche Kritik weniger freundlich: „Wie ein Schwein siehst du aus, Sohn“, sagte er, wenn der Junge mit marmeladeverschmiertem Kindergesicht von der Schule heimkam. „Wenn du nicht besser aufpassen kannst, wie du isst, gibt es künftig nur noch trocken Brot in die Brotdose!“ Eine schlimme und nie wahrgemachte Drohung für den Jungen, der am liebsten nur die Marmelade vom Brot geschleckt und das Brot in den Abfall geworfen hätte.

„Kürbis“, sagte Rose oft, „das Brot verdient der Mensch am schwersten. Aber du lässt es einfach stehen, alles andere ist dir wichtiger. Dabei ist Brot so praktisch. Nie würde es dir den Bart verschmieren.“

Aber Herr Molinar mochte trocken Brot nach wie vor nicht, und was der Postbote wusste oder dachte, war ihm gleichgültig.

Er drehte sich weg vom Fenster und sah in das dämmerdunkle Wohnzimmer. Kein Tannengrün in diesem Jahr, kein Weihnachtsstern, kein Winterstrauß, kein Adventskranz. Das war immer Roses Zuständigkeit gewesen. Unnütz und geschlossen stand der Flügel in einer Ecke, ungespielt seit Monaten. Keine Rose entlockte ihm mehr Weihnachtsmusik.

Wie sie früher zusammen gelacht hatten über das Lied „Es ist ein Ros‘ entsprungen“! Herr Molinar stellte sich immer Rose dabei vor, Rose bei einem ihrer beeindruckenden Ballettsprünge, deren Namen er sich niemals merken konnte. Er war und blieb halt, dachte er und grinste schief dazu, doch ein Kürbis.

Warum hatte Rose bloß umfallen müssen, beim Joggen, einfach so? Warum hatte genau in dem Moment ein Auto kommen müssen? Warum war da diese überfrorene Pfütze gewesen, diese einzige, die das Auto am Anhalten hinderte? Obwohl der ganze Rest des Weges nicht überfroren war? Es war doch schon April! Warum war Rose gerade an diesem Tag allein gejoggt statt mit der Nachbarin?

Morgen, wenn es Herrn Molinar wieder besser ging und sein Rücken nicht mehr so höllisch weh tat, würde er für seine Rose ein Tannenbäumchen aus dem Garten holen und zum Friedhof bringen. Vielleicht fiele ihm sogar ein, wo sie den Baumschmuck immer hin räumte, dann würde er es auch schmücken. Das gefiele ihr gut, war sich Herr Molinar sicher. Auch wenn heute schon der zweite Weihnachtstag war. Am Heiligabend hatte Herr Molinar per Videotelefonat den bunt beleuchteten Baum von Marita gesehen, das hatte ihm genügt. Aber Rose hätte einen eigenen Baum haben wollen. Nur … der Rücken …

„Herr“, betete Herr Molinar und sah dabei blicklos zum Foto von Rose, das in der Dunkelheit kaum mehr zu erkennen war, „Herr im Himmel, wenn schon Rose nicht wiederkommen kann, dann schicke diesmal wenigstens Schnee. Schnee, der ihr Grab bedeckt. Sie hat Schnee so geliebt, Herr.“

Der Sturm rüttelte so heftig an der Terrassentür des alten Hauses, dass die beiden Tiere sich unter dem Couchtisch versteckten. Durch alle Ritzen drang die Kälte ins Wohnzimmer. Fröstelnd tastete sich Herr Molinar wieder zum Fenster zurück, um die Rollläden hinunter zu kurbeln. Er wollte das Licht im Wohnzimmer anschalten, kam aber an den Schalter fürs Terrassenlicht.

Und da sah er es: Schneeflocken, dichte, große Schneeflocken wirbelten durch die Nacht, setzten sich aufs Dach des Gartenhauses, überzuckerten die Backsteine der alten Terrasse. Es würde wohl doch eine weiße Weihnacht geben. Diese Nacht des zweiten Weihnachtstages. Eine Weihnacht nach Roses Geschmack.

„Danke, Gott“, murmelte Herr Molinar.

Großstadtdämmern

Draußen, am Jahrmarkt, bei der Achterbahn hatte die Sonne Christine so geblendet, dass sie nach ihrer Sonnenbrille kramte und sich selbst verfluchte, weil sie keine dabei hatte. Jetzt, in der Straßenschlucht zwischen den nichtssagenden neunziggeschossigen Bürotürmen schien die Dämmerung bereits in Nacht überzugehen. Die sechsspurige Autostraße, flankiert von zwei fahrspurbreiten Gehwegen, war zwischen den Hochhausriesen so eingeklemmt, dass sie selbst zum Atmen fast zu eng wirkte.

Christine war ein Großstadtmensch, aber diese Schlucht erinnerte sie an einen Urlaub in den Bergen, als sie aus einer Klamm nur mit Mühe und Not wieder herausgefunden hatte, ehe der Schneesturm die Klamm unpassierbar machte. Die Autos rauschten vorbei wie damals der Bergbach, unablässig, unaufhaltsam, mit auf- und abwallendem Basso continuo. Hinter einer leichten Linkskurve verschwand der Jahrmarkt mitsamt seinen Gerüchen nach Maronen und Zuckermandeln, Bratwurst und Erbseneintopf.

Nichts daran war einzigartig. Nichts hielt irgendeines der Versprechen, die Peter ihr gegeben hatte.

Christine ging in die Dunkelheit hinein und genoss das Geflirre der Scheinwerfer und Bremslichter, der Leuchtreklamen und Verkehrsampeln, wie sie es bei jedem Landeanflug nach Nachtflügen genoss, die diamantbunten Lichtpunkte im Samtschwarz funkeln zu sehen.

Wer, bitte, war schon Peter?!

 

(Eine abc-Etüde in 10 Sätzen, Reizwörter: Achterbahn, Straßenschlucht, einzigartig. Mit Dank an „Bruni“ Brunhilde Kantz, www.wortbehagen.de für die „Wortspende“, sowie an „Christiane“, Irgendwas ist immer.)

 

Sabotage

„Ich hab mal einen Flugkapitän gekannt“, sagte Franziska und ließ ihr Strickzeug sinken. Eine Masche löste sich von der Nadel, dann noch eine und noch eine, aber sie schien es nicht zu bemerken. Regenschnüre rannen die Fenster des Kaffeehauses hinunter und lösten sich zu Tropfen auf, die einander mal schräg, mal krumm nach unten verfolgten, bis sie irgendwo, meist lange vor dem Ziel, ihre Absicht vergaßen und stehenblieben, ehe sie sich mit anderen Tropfen zusammentaten und sich erst schwerfällig und dann schneller wieder in Bewegung setzten.
„Einen Lug-Agenten?“ Johannes nestelte an seinem Hörgerät und klopfte mit dem Kopf seiner Pfeife so unkoordiniert wie unbeabsichtigt auf den Kaffeehaustisch. „Entschuldige“, murmelte er erklärend dazu, „Parkinson.“ Die Pfeife roch nach kalter Asche. Seit Jahren hatte niemand mehr daraus geraucht.
„Einen Flug-ka-pi-tän“, wiederholte Franziska, so laut es ihre Stimme hergab, und strich sich eine weiße Haarsträhne von der Wange. „Der hat gesagt, Fliegen ist im Prinzip wie Busfahren, nur schneller und höher.“
„Ich fahre gern Bus“, sagte Johannes und versuchte, die Pfeife aufzuheben, die ihm aus den Händen gerutscht war. Es gelang ihm nicht. Franziska nahm einen Schluck von dem koffeinfreien Kaffee, den die Pflegerin ihr eingegossen hatte.
„Was wollte ich denn … ach ja, Georg, so hieß der Flugkapitän. Wir haben uns bei der Diakonie getroffen, im Altkleiderladen. Da war er schon seit Jahren in Pension. Einmal in der Woche hat er dort ausgeholfen, im Laden.“
„Als Flugkapitän?“ Roselies nestelte ein Papiertaschentuch aus dem Seitenfach ihres Rollstuhls und tupfte sich damit den Speichel aus dem Mundwinkel. Seit ihrem Schlaganfall konnte sie den Speichelfluss nicht mehr kontrollieren.
„Hörst du nicht zu? Das war er damals schon lange nicht mehr.“ Franziska versuchte vergeblich, ihren Rücken geradezubiegen. „Ich war dort Praktikantin, hatte eben die letzte Klasse abgeschlossen.“
Wer war die fremde Alte im gegenüberliegenden Kaffeehausspiegel? Der Spiegel war halb blind, und das war gut, denn er zeigte Franziska ohnehin nicht die junge Frau mit blondem Haarkranz, klaren Augen und glatter, sommerbrauner Haut, die er hätte zeigen sollen.
„Sabotage ist das“, sagte sie und bemühte sich vergebens, die Maschen ihrer Strickarbeit wieder aufzunehmen.
„Was? Die Laufmaschen?“ Roselies lehnte sich in ihrem Rollstuhl zurück und schloss die Augen. „Sabotage“ war Franziskas Lieblingswort.
„Das ganze Leben ist Sabotage. Irgendwer ist immer da, der einer Steine in den Weg legt, Sand ins Getriebe streut oder die Suppe versalzt.“
„Damals im Krieg …“, begann Johannes. „Wir haben dafür sorgen müssen, dass kein Flugzeug den Flughafen verlassen konnte. Ich habe die Motoren ausgebaut, manipuliert und wieder eingebaut, mein Kumpel Jonathan hat Schmiere gestanden und meine Mutter hat uns heimlich Stullen mit selbst gemachter Bratwurst in den Hangar geschleppt …“
„Sag ich ja. Sabotage.“ Franziska schnitt dem blinden Kaffeehausspiegel eine Grimasse, eine pubertäre Gesichtsverrenkung, eingebettet in blassgraue, zerklüftete Haut.
„Pflichterfüllung“, widersprach Johannes. „Es war ein Befehl der Partei!“
„So etwas Ähnliches hat meinen Flugkapitän fast das Leben gekostet“, erzählte Franziska den Blümchen auf ihrer Kaffeetasse.
„Er hat die Maschine in die Luft gebracht und zu spät gemerkt, dass etwas damit nicht in Ordnung war. Nur mit großer Mühe hat er sie wieder landen können. Sie ist wohl verbrannt, aber er konnte sich retten. Danach konnte er nie wieder fliegen.“
„War das hier am Flughafen Wiesental?“, fragte Johannes. „Georg hieß der also? Lebt er noch?“
„Nein“, sagte Franziska.

Strohhalm im Dung

Erst vorgestern, zwei Stunden vor ihrem ersten gemeinsamen Auftritt als Clowns, hatten sie, Maria und ihr Mann Martin, 28 Störche gezählt. Noch niemals hatte Maria so viele auf einem Haufen gesehen. Sie war heim gelaufen, um ihr Smartphone zu holen (zum Kuckuck, gerade heute hatte sie es vergessen), aber als sie wieder an der Brache am Bach ankam, waren die Vögel fort.

Stattdessen fiel ihr dieses Etwas auf, das sie für ein Vogelnest hielt, vielleicht von einer Ackerhummel, das müsste sie im Internet nachschlagen. Sie fotografierte das Nest und prüfte das Foto, und es WAR das Nest einer Ackerhummel.

Heute stand Maria wieder vor dem Nest, und es war immer noch da, und es war immer noch das Nest einer Ackerhummel, und der Augusthimmel war immer noch blau, und der Bach stank immer noch nach Abwasser, und der Sommer surrte durch die Hochspannungsleitung, als könne er nie vergehen.

Aber Maria wusste, dass er vergehen würde, alles verging, das hatte sie heute Mittag auf der Intensivstation gelernt, als sie den Ärzten erlaubte, die Herz-Lungen-Maschine auszuschalten, weil sie Martins Körper nicht  mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgen konnte.

Maria griff mit beiden Händen nach vorn, griff nach dem Strohhalm im Dung, auf dem ein Distelfalter wippte, als wollte sie den Falter mitnehmen in ihre leer gewordene Wohnung. Der Distelfalter schwebte davon, irgendwohin ins Licht, über den Bach, über die Brache, und Maria sah ihm nach, bis sie den Punkt aus den Augen verlor.

Es war sinnlos, alles, es würde sinnlos bleiben und war immer schon sinnlos gewesen.

(Für die Anregung zu dieser Etüde danke ich (unbekannterweise) „Karin“, https://365tageasatzaday.wordpress.com/2017/06/25/schreibeinladung-fuer-die-textwoche-26-17-wortspende-von-karin.

Sie hat die Reizwörter „Vogelnest, sinnlos und Auftritt“ in die Runde geworfen.

Gestrandet

Marietta schmeckte das Badesalz auf den Lippen. Badesalz. Kein Meersalz. In diesem Sommer würde sie kein Meerwasser sehen.

Nachdenklich, aber nicht mehr traurig betrachtete sie auf ihrem Handy-Display das Strandfoto vom letzten Jahr. Hankas Körper beulte breit und flundernplatt den Sand aus, ölig, fast leblos unter der Sommerbräune. Daneben stand Sven, breitbeinig, ein Lehrmeister, der seine Schülerin dahin gebracht hat, wo er sie hin haben wollte, ein Sklavenhalter vor seiner erschöpften Sklavin.

Marietta streichelte sich über die Hüften und lächelte dem Bild ihres molligen Selbst im Badezimmerspiegel zu. Es gab keinen Sven mehr in ihrem Leben, und das war gut so. Sie hoffte für Hanka, dass auch sie den Absprung irgendwann schaffen würde.

Zu zweit allein

Die Sommerblüten in der trüben Glasvase auf dem Schreibtisch waren so trocken, dass der Luftzug, den Marianas Eintreten verursachte, einen Teil davon zu Staub zerfallen ließ, und in dem fensterlosen Raum war es so still, dass sie das Auftreffen der Blütenteilchen auf den Aktenblättern hören konnte. Das Knistern klang bedrohlich wie fernes Donnergrollen.

„Ich habe Kaffee organisieren können“, sagte der alte Mann und strich sich die zu langen Seitenhaare über die verschwitzte Glatze. „Ich habe sogar Zucker, extra für Sie.“

Es klang zynisch, aber Mariana hatte Durst, großen Durst, sie hätte jedes Getränk angenommen, und wenn es Gift gewesen wäre. Sie setzte die Tasse an die Lippen und trank einen langen Schluck.

Der Kaffee schmeckte bittersüß.

„Und jetzt zu uns“, flüsterte der Alte. Es klang in ihren Ohren wie das Zischen einer Schlange, aber Mariana biss die Zähne zusammen und ging um den Schreibtisch herum, wie sie es jedes Mal tat, wenn er sie rief.

Außerhalb dieses schalldicht abgeschlossenen Bunkers, das wusste sie, konnte niemand es hören, wenn sie schrie.

Traumlos

Immer war da irgendwas,

das mich daran hinderte, meine Träume zu leben.

Immer war da irgendwas,

das wichtiger war als ich.

Immer war da irgendwas,

das sich in den Vordergrund schob, wenn ich ich sein wollte.

Immer war da irgendwas,

hinter dem ich mich vor mir verstecken konnte.

Und jetzt ist da nichts mehr als Angst.