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Urlaub für den Muser

Seit mein Muser sich mit Burnout-Symptomen auf die Kanarischen Inseln verabschiedet hat – Ausrede: er BRAUCHE den Urlaub, und ich müsse ihn bezahlen, ich sei schließlich schuld an seinem Zustand – ist mein vormals breiter und reißender Ideenstrom komplett versiegt. Nur noch ein leeres Flussbett erinnert daran, dass da mal etwas gewesen sein muss, das wohl doch nicht in meinem eigenen Kopf wohnte, wie ich immer dachte, sondern in demjenigen vom Muser, obwohl ich den Kerl bisher für total überflüssig gehalten habe.

„Du unterschätzt uns alle“, beschwert sich der Nopupa, eine Fantasiegestalt, die dem dreijährigen Kindergartenhirn meiner Enkelin entsprungen ist wie alle Fantasiewesen um mich her, vom Muser einmal abgesehen, aber der ist ja, wie gesagt, nicht mehr da, sondern auf den Kanaren, und das für unbestimmte Zeit (oder solange mein Geld für seine Erholungshöhle reicht).

Der Nopupa ist derjenige unter den Gespenstern und Monstern meiner Zwei-Zimmer-Wohnung, der den meisten Quatsch macht. Er erfindet Wörter wie Dumamo und mindieren und quamquompom und xinowasig und Klamidro, was dann so klingt als mindiere ein Dumamo quamquompom xinowasig ins Klamidro hinüber.

Das nervt den Bepampam tierisch, weil er es nicht versteht und weil SEINE Spezialität eher darin besteht, auf meinem Bett herumzuhüpfen, um mich aufzuheitern, denn schließlich hat meine Enkeltochter ihn eigens zu dem Zweck erfunden, dass er mir zur Seite stehe (oder eben hüpfe), wenn mich der Kummer packt, weil ihr Opa tot ist. Aber wenn es darum geht, sich unterschätzt zu fühlen, stimmt der Bepampam dem Nopupa augenblicklich zu.

„Ohne den Muser kannst du nicht mal einen simplen Weihnachtsstern klöppeln, geschweige denn eine gescheite Geschichte schreiben“, wirft er mir vor, und das stimmt auffällig, weil ich überhaupt gar nicht klöppeln kann, „und soviel ich den Muser verstanden habe, ist diese Börnhaut-Sache höchst langwierig, du musst also endlich mal selbst etwas tun!“

„Das sehe ich auch so“, meldet sich der kleine Dinosaurier mit dem bösen Gesicht und den Stacheln am Rücken, der sich am liebsten von Kinderfüßchen ernährt, wie meine Enkelin mir mehrere Male täglich versichert, wenn sie nicht allein auf Toilette gehen will, weil ihr der bösartige Dino im Bad auflauert, „also hurtig, hurtig, ab in dein Oma-Büro, Computer angemacht, und los geht’s!“

Ich schließe die Tür hinter mir, um endlich in Ruhe nachdenken zu können, ohne Quatschsätze und Bettgehüpfe, und frage mich ein wenig bange, ob der kleine Dinosaurier wohl auch MEINE Füße schmackhaft fände, wenn er es schaffte, in mein Oma-Büro zu kommen, beschließe, das unwahrscheinlich zu finden, weil meine Füße bestimmt zäh sind wie Sohlenleder, und drehe doch zur Sicherheit den Schlüssel zweimal um, auch wenn das ein Monstergespenst wie den kleinen Dino schwerlich am Eindringen hindern dürfte.

(Mit einem Dankeschön an Christiane für ihre Einladung zu den abc-Etüden, diesmal die mit den Wörtern „Flussbett“, „langwierig“, „klöppeln“, die wie immer in maximal 10 Sätzen unterzubringen waren. Sie stammen diesmal übrigens von „Frau Myriade“.)

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Steinchen sammeln

„Lass den Stein doch liegen, der ist schmutzig,“ will ich gerade sagen und mache schon den Mund auf dazu.

Ich gehe mit meiner Enkelin spazieren, tapp-tapp nennt sie das, und sie macht (manchmal) „riesengroße Schulkindschritte“, weil ich immer wieder „komm, komm, komm“ rufe. Mit riesengroßen Schulkindschritten ist sie fast so schnell wie ich bei normal-gemütlichem Tempo. Aber verständlicherweise sind die meisten ihrer Schritte kindergartenklein, denn sie ist erst zwei Jahre alt und eben erst ein Kindergartenkind geworden, „ein echtes“, wie sie betont.

Sie liebt Steinchen. Sie siebt sie aus dem Sand, klaubt sie von Kieswegen, fischt sie aus Blumenbeeten und verstaut sie am liebsten in meiner Hand: „Oma! Für dich!“

Ich bemühe mich zu lächeln, statt zu stöhnen. Ich habe schon drei vertrocknete Zweige zu schleppen, von einer Babypuppe und deren Puppenbuggy ganz abgesehen. Die Puppenmama hat für sowas keine Hände frei. Sie muss arbeiten, das muss ich verstehen. Ich darf die Steinchen auch keineswegs wieder fallenlassen, die sind fürs Regal in meinem Flur bestimmt, wo sie in der Marmeladenglas-Schatzkiste neben der vertrockneten Knetmasse ihren Platz bekommen sollen.

„Wenn wir mal viel Zeit haben, Oma, und wenn du Farbe gekauft hast, dann könnten wir die doch anmalen“, findet das Mädchen. Ja. Könnten wir. Zeitungen aufs Parkett breiten, mit Malerkrepp ankleben, Malkittelchen anziehen – „du aber auch, Oma!“ – auf dem Boden herumkriechen und Pinsel anreichen, mit Papiertaschentüchern das Kindergesichtchen säubern, „nicht abschlecken!“ rufen und zum Schluss, abends, wenn das Kind wieder bei seinen Eltern ist, die bunten Gebilde lackieren und zum Trocknen auf den Balkon bringen. Als Weihnachtsgeschenke für Uroma und Uropa vielleicht? Mama und Papa haben nämlich die ganze Wohnung schon voller ähnlicher Kunstwerke. Und Oma auch.

Aber weil die Steinchen schmutzig sind, müssen sie erst geduscht werden. In meiner Badewanne. Das Bad sieht nachher aus, als hätte es einen Profi-Putzmann nötig, aber ich bin meine eigene Putzperson. Da hilft anschließend nur schmerzstillendes Gel gegen das Stechen im Rücken.

Nein, Omas sind nicht immer automatisch nett, ich jedenfalls bin es nicht. Nicht beim Steinchensammeln. Dabei müsste ich nur die Uhr ein paar Jahrzehnte zurückdrehen, nicht wahr? Dann ginge ich an der Hand meines Opas zum Bahnhof der Schmalspurbahn, und der Bahnhof käme mir unendlich weit vor, obwohl wir in der Bahngasse wohnten und nur einige wenige Häuser weit zu laufen hatten.

Opas Hand umfasste mein Händchen und war sehr groß und immer warm, auch bei Wind und Wetter, Regen und Frost. Und zu jeder Jahreszeit durfte ich mit ihm Steinchen sammeln gehen, Steinchen, die am Bahnhof als Kies haufenweise zwischen den aufgelassenen Gleisen lagen. Dass sie schmutzig sein könnten, habe ich mir damals nie überlegt. Obwohl es ein Hauptspaß war, sie hinterher mit Opa zu waschen. In der Waschschüssel in Omas und Opas Wohnküche, am Küchentisch, neben dem grünen gekachelten Herd, während Oma das Abendessen kochte.

„Passt bloß auf, dass euer Schmutzwasser nicht in mein Essen spritzt“, schimpfte Oma vorsorglich. Und das taten wir, Opa und ich (oder doch nur Opa?), aber der Dielenboden musste hinterher gescheuert werden. Das erledigte Opa, was ich normal fand, schließlich war ER es ja, der die Steinchen in seiner Hand vom Bahnhof in die Wohnung hatte tragen wollen, in der linken Hand, an deren kleinem Finger ich mich festhielt, weil sonst nichts mehr frei war. Denn in der rechten Hand trug Opa meinen Teddybären und meinen Tretroller, für den ich zu müde war.

„Lass den Stein doch liegen, der ist schmutzig,“ hätte ich gerade fast gesagt. Ich habe schon den Mund dazu aufgemacht. Aber ich mache ihn rasch wieder zu und denke an meinen Opa, der jetzt 113 Jahre alt wäre, wenn er noch lebte.

Ob er wohl ähnliche dumme Sätze hat verschlucken müssen? Falls ja, habe ich es nicht gemerkt. Ich lasse eine Handvoll Steinchen in meiner Windjackentasche verschwinden und spüre das Händchen meiner Enkelin an meinem kleinen Finger. Die ganze Hand kann ich ihr nicht geben, denn da sind ja noch die vertrockneten Zweige, die sie für die braune Vase in meinem Wohnzimmer vom Gehweg aufgehoben hat.