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Distanzunterricht
„Warum nicht orange?“, fragte meine achtjährige Enkelin Jolanda, während sie eigenhändig mit Buntstiften den dritten Aufsatz ihres Lebens illustrierte. Es war eine Geschichte von „Einhorni“, das seine Mama sehr lieb hatte und ihr das, einen „Zauberschtift“ benutzend, brieflich mitteilte, was für das kleine Tier ein Abenteuer darstellte. So waren die Wörter „Stift“ und „Brief“ und „Abenteuer“ sinnvoll untergebracht, und das musste sein, denn diese Wörter hatte sie in der Videokonferenz mit ihrer Deutschlehrerin mühsam erarbeitet. (Das war, als ihre Klassenkameradin Mira die Konferenz verlassen hatte, weil sie von Sydney aus teilnahm und in Sydney Nacht war und Mira schlafengehen musste.)
Die Illustration stellte ein Baby-Einhorn dar, das aussah, als wäre es aus Honigkuchen gebacken und mit kunterbuntem Zuckerguss verziert worden. Die Vorlage hatte Jolanda mit ihrem Tablet im Internet gefunden, selbst an meinen Drucker geschickt und etwas krakelig in ihr liniertes Heft abgepaust, während der Lautsprecher ihres Tablets internationale Kinderlieder plärrte, die ihr fünfjähriger Bruder Jonathan lauthals und falsch mitsang.
„Das Einhorn ist doch fertig“, wandte ich ein.
„Ja,“ sagte Jolanda, „aber der Hintergrund nicht. Und der soll orange aussehen, weil Abend ist.“
Ich mag die Farbe Orange nicht, aber es war nicht mein Bild, und Jolanda ließ sich von meiner Meinung kein bisschen erschüttern, also malte sie weiter, statt sich endlich um die zehnerübergreifenden Subtraktionen zu kümmern, die als nächste dran waren.
Jonathan hörte auf zu singen, als der Kinderlieder-Clip zu Ende war, und begann stattdessen, Zetermordio zu brüllen.
„Nie kümmerst du dich um mich,“ warf er mir vor. „Immer geht es um Jolanda!“
„Du darfst dein Vorschulblatt ausfüllen“, sagte ich, „aber Jolanda hat gerade Unterricht.“
„Ich habe mein Arbeitsblatt schon ausgefüllt“, maulte er. „Zu Hause bei Papa, als die Mama im Hommofiss war. Jetzt will ich mit Baggerli spielen!“
Weichherzig, wie ich bin, quälte ich meine arthritischen Knochen auf den Boden hinunter und baute einen Turm aus Holzbauklötzen, damit Jonathan ihn mit seinem Spielzeugbagger niederreißen konnte.
„Muss ich die Zwischenschritte wirklich aufschreiben?“, fragte Jolanda, die inzwischen ihr Rechenheft hervorgeholt hatte.
„Ja. Herr Müller will sehen, wie du es gerechnet hast.“
„Aber ich rechne es nicht so, wie Herr Müller will“, beschwerte sich Jolanda. „Darf ich aufschreiben, wie ich es rechne?“
In ihrem Arbeitsheft war das nicht vorgesehen, obwohl sie mit ihrer Strategie zum richtigen Ergebnis kam.
„Nein. Du sollst lernen, es so zu rechnen, wie es im Heft steht.“
„Ich will aber nicht!“
„Das ist egal. Ich will auch nicht immer, was ich muss.“
„Und ich habe Durst.“
„Baggerli und ich haben schon länger Durst,“ meldete sich Jonathan.
„Und überhaupt, wann kommt endlich die Mama?“ fragte Jolanda.
„Wenn ihr Video-Meeting zu Ende ist,“ wiederholte ich die Auskunft meiner Schwiegertochter.
„Können wir vorher noch spielen?“
Ich prüfte die Uhrzeit auf meinem Handy. Halb fünf.
„Ja“, sagte ich.
„Wann?“
„Jetzt.“
Jolanda räumte ihre Hefte in den Ranzen zurück und knuffte fröhlich ihren Bruder.
Genug war genug, befand ich und stand erleichtert auf.
(Zu verarbeiten waren im Rahmen von Christianes Schreibeinladung fünf der sechs Wörter Zetermordio, weichmütig, backen, Lautsprecher, orange und erschüttern, gestiftet von Ludwig Zeidler und Ulrike von Blaupause7, und zwar in nicht mehr als 500 Wörtern. Danke für die Wortspenden und die Einladung!)