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Unterwegs zum Opahaus
„Variabel“, erklärte Célestine ihrem Brüderchen Roman, „das heißt, es kann auch anders sein. Also, es ist nicht immer gleich, weißt du? Manchmal ist es so, und manchmal so.“
Der Zweijährige nickte: „Manmal so“, versuchte er nachzuplappern.
„Nein“, sagte die Vierjährige, „eben nicht. Das habe ich falsch gesagt, entschuldige. Manchmal ist es so, manchmal anders, wollte ich sagen. Das ist variabel.“
„Waja-el“, echote Roman.
“Genau. Und jetzt erkläre ich dir, was harmlos ist.“
„Hamloo“, wiederholte der Kleine und sah seine Schwester interessiert an. Wie schlau sie war! So schlau wollte er auch werden, wenn er groß war.
„Eine Blume ist harmlos”, sagte Célestine, „siehst du dieses Gänseblümchen? Das ist harmlos. Denn es tut niemandem weh. Wenn du niemandem wehtust, bist du harmlos. Verstehst du das?”
„Ja. Oman hamloo.”
Célestine lachte nachsichtig und sah ihren Opa an: „Wie niedlich er ist, nicht wahr, Opa?“
Der alte Mann verkniff sich ein Schmunzeln und stimmte der Enkelin zu. Roman war tatsächlich niedlich in seinem Bestreben, endlich sprechen zu lernen – aber Célestine war ebenso niedlich als seine Sprachlehrerin.
Die drei waren auf dem Weg von Célestines Kindergarten zum Opahaus, in dem die Kinder heute zum ersten Mal wieder spielen durften, seit der Opa aus dem Krankenhaus entlassen worden war.
„Bist du jetzt wieder ganz gesund, Opa?“, fragte Célestine.
„Gesund genug, um auf euch aufzupassen, wenn ihr mich nicht allzu sehr ärgert und provoziert“, antwortete der alte Mann. Er würde nie wieder ganz gesund werden, aber Célestine hatte erleben müssen, dass ihre Oma gestorben war, sie musste nicht alles wissen.
„Ich mag es auch nicht, wenn Roman mich provoziert“, sagte das kleine Mädchen. „Weißt du, was das heißt, Roman? Das ist, wenn du mich so ärgerst, dass ich mit dir schreien muss, obwohl ich nicht will. Das stimmt doch, Opa, oder?“
„Ja“, sagte der alte Mann.
(Die Wörter für die obige Geschichte kommen von Alice und ihrem Blog Make a choice Alice. Die drei Begriffe lauten: Roman, variabel, entlassen. Sie waren wie immer in maximal 300 Wörtern zu einer Geschichte zu verarbeiten. Danke, liebe Alice und liebe Christiane, für den Anstoß!)
Fischstäbchen mit Pommis
Das Ahornblatt, das Thierry ihr unter die Nase hielt – er hatte es beim Spaziergang mit der Kindergartengruppe gefunden und nicht losgelassen, bis er endlich abgeholt wurde – erinnerte Ramona Bahmüller an ihre Beinahe-Schwiegertochter Désirée, die ihr zum 60. Geburtstag ein überdimensioniertes Kanada-Wappen gemalt hatte, ein rotes Wappenblatt vor dem Hintergrund einer angedeuteten Schneelandschaft, 1,80 mal 1,80 Meter groß, für die leere weiße Wand im Entrée von Ramonas und Walters Landhaus, wo es großartig ausgesehen hatte, denn Thierrys Mama hatte Geschmack und Talent gehabt und gewusst, was wo wie gut wirken würde.
Jetzt wartete das Gemälde neben selbstgemachter Marmelade und selbst eingelegten Gurken süß-sauer im Keller des Mehrfamilienhauses, in dem Ramonas kleine Zwei-Zimmer-Wohnung (dritter Stock, mittlere Tür) sich befand, auf bessere Zeiten, denn Ramona hatte kein freies Plätzchen dafür gefunden und die Wohnung, in die sie nach Walters Tod gezogen war, so minimalistisch wie möglich eingerichtet, um sich ein winziges Restgefühl der Weite und Großzügigkeit zu erhalten, das sie so liebte.
Ramona wusste, dass sie funktionieren musste, trotz der brennenden Einsamkeit, die ihre Seele aufzufressen drohte, trotz der Morgentränen, die sie, Johanniskrautextrakt hin oder her, täglich weinte, vor oder nach dem Zähneputzen, aber immer, bevor sie Thierry weckte, damit er rechtzeitig zum Kindergarten kam.
Sie fragte sich nicht, warum es sie und immer wieder sie traf; ihr war klar, dass sie auch viel Schönes und Wertvolles „getroffen“ hatte, und dass alle Menschen ihr eigenes Päckchen zu tragen hatten, aber trotzdem wusste sie manchmal nicht, wo die Kraft herkommen sollte, das zu schultern, was sie nun einmal schultern musste: da zu sein für Thierry, dessen Mama seine Geburt nicht überstanden hatte, für ihn da zu sein jetzt sogar ohne die Hilfe von Walter, ihrem Kraft- und Energiequell während der fast 35 Jahre ihrer Ehe, ihrem sicheren Hort, ihrem …
„Weinst du, weil Opa gestorben ist?“
„Weil Opa gestorben ist, und weil deine Mama gestorben ist, und weil dein Papa jetzt diese Chinareise machen muss für seine Firma,“ antwortete Ramona, die hier, in der fremden Stadt, in die sie ihrem Sohn Christian zuliebe aus dem vertrauten Schwarzwalddorf umgezogen war, niemanden kannte und mit niemandem reden konnte als mit ihrem Enkelkind.
„Aber Opa lebt doch noch, wohl im Spiel“, versuchte der Fünfjährige, sie zu trösten, „und Mama auch, und Papa kommt, wohl im Spiel, nachher von der Arbeit wieder und isst mit uns zu Abend, du musst ihnen nur ein bisschen helfen zu reden, Oma!“
„Ja, stimmt“, bemühte sich Ramona mit Christians Stimme zu antworten, „ich bin schon da, mein Großer, und aus deinem Ahornblatt machen wir gleich was Schönes, wir beiden, und ich hab Fischstäbchen mitgebracht, die kann deine Mama uns braten, und der Opa holt solange eine Tüte Pommes frites aus der Tiefkühltruhe, die werfen wir in die Fritteuse und machen es uns gemütlich!“
„Au ja, Papa, wir kleben ein Bild, und dann essen wir Fischstäbchen mit Pommis“, spielte Thierry das Spiel mit, „und in der Nacht darf ich dann zu dir und zur Mama ins Bett krabbeln, wenn ich Albträume habe, nicht wahr, Oma, und du machst dann Mama und Papa reden, und dann schlafen wir beide wieder ein.“
Ramona schluckte hart, sagte mit tiefer Christian-Stimme, „na klar, mein Sohn“ und nahm ihn mit in den Vorratskeller, um Fischstäbchen und „Pommis“ aus der Gefriertruhe zu holen.
(Mit einem Dankeschön an Christiane für ihre Einladung zu den abc-Etüden, diesmal die Nummer 1 mit den Wörtern „Ahornblatt“, „Chinareise“, „krabbeln“, die wie immer in maximal 10 Sätzen unterzubringen waren. Diesmal handelt es sich übrigens um meine eigene Wortspende.)
Verhohnepiepelt
Bei ihrer Düsseldorf-Oma fühlte sich Sitora immer pudelwohl, denn hier gab es nicht nur einen Riesenspielplatz und Kekse bis zum Abwinken, alle mit rosa Zuckerguss, sondern auch jede Menge lustige Bilderbücher aus Mamas Kindergartenzeit, und dazu war die Düsseldorf-Oma schlau und geduldig und beantwortete Sitora fast alle Fragen, und Sitora hatte viele Fragen, denn im Kindergarten gab es so viele neue Dinge, die sie nicht durchschaute und so viele neue Wörter, die sie noch nie gehört hatte, Tyrannosaurus und Wasserpause und Versperzeit und …
„Oma, was ist eine Wanderdünne? Yusup sagt, es ist das Gegenteil von Laufdicke, aber Yusup ist immer so gemein und sagt Quatsch, und wenn ich dann im Kindergarten etwas davon erzähle, lachen mich Emilia und Jean-Luca aus, und die Erzieherin guckt mich an mit bösem Gesicht. Und außerdem – was ist eigentlich eine Laufdicke?“ Sitora wusste, dass ihre Düsseldorf-Oma, Mamas Mama, eine echte Deutsche war, in Deutschland geboren, nicht so wie die Kurgantobe-Oma und der Kurgantobe-Opa, Papas Eltern, die ganz weit weg in Tadschikistan wohnten, also würde die Düsseldorf-Oma auch Wörter wie Wanderdünne und Laufdicke kennen.
Früher, vor dem Hyperknall bei der Explosion der Lagerhalle für Feuerwerkskörper in Duschanbe, in der Sitoras und Yusups Mama für ihren Spaßladen einkaufen wollte, hätte auch sie solche Wörter erklären können, denn da konnte Mama ja noch hören und sprechen, aber an diese Zeit erinnerte sich Sitora nicht mehr, nur Yusup und Papa und die Düsseldorf-Oma erzählten manchmal davon.
„Laufdicke kenne ich nicht“, sagte die Düsseldorf-Oma, „höchstens Laufmaschendicke, aber doch eher Laufmaschenbreite, das ist, wenn du eine Laufmasche in der Strumpfhose hast, und es zeigt an, wie viele Maschen kaputt sind, aber das ist nicht das Gegenteil von Wanderdüne, weil eine Wanderdüne nichts mit dünn zu tun hat. Die ist nämlich aus Sand, und sie ist ein Berg, und wenn der Wind von der einen Seite den Sand wegbläst und ihn auf der anderen wieder niederschneit, dann kriecht der Berg ganz langsam weiter, kriech, kriech, weißt du? Das kannst du mal im Sandkasten ausprobieren, wenn du magst, ich helfe dir dabei, nimm am besten gleich die Sandelsachen, und wir gehen los.“
„Au ja“, rief Sitora, zog freiwillig Gummistiefelchen und Draußenhose an und schnappte sich Eimerchen, Förmchen und Schaufel, „ich WUSSTE doch, dass Yusup mich nur verhohnepiepelt,“ und sie fragte sich verwundert, warum die Düsseldorf-Oma plötzlich so lachen musste – stimmte vielleicht etwas nicht mit dem Verhohnepiepeln, das doch der große Jean-Luca immer zu ihrem Bruder Yusup sagte?!
(Mit einem Dankeschön an Christiane für ihre Einladung zu den abc-Etüden, diesmal die Nummer 2 mit den Wörtern „Hyperknall“, „Wanderdüne“, „pudelwohl“, die wie immer in maximal 10 Sätzen unterzubringen waren.)
Das Monster
Das Stativ sah aus wie ein Monster, mit seinen drei Beinen, dem zylindrischen Metallkörper und dem flachen Kopf mit senkrechten Rillen dran.
„Geh weg!“, sagte meine Enkelin und baute sich drohend vor dem Gebilde auf, das doppelt so groß war wie sie, „geh weg, Monster! Ich habe keine Angst vor dir, aber du darfst dem Brüderchen nichts tun. Wenn du dem Brüderchen die Beine abbeißt, jag ich dich!“
Das Monster sagte nichts.
Das Brüderchen schlief unbeeindruckt in seiner Wippe den Traum eines gerechten Babys, diesen Kindheitstraum, den wir alle einmal geträumt haben, zumindest wenn wir nicht schon vorher traumatisiert das Träumen verlernen mussten.
Meine Enkelin drehte sich zu dem Kleinen um und legte schützend die Ärmchen um den unteren Teil der Wippe.
„Ich bin ganz vorsichtig, Oma“, sagte sie, „ich tu dem Brüderchen nicht weh, ich will nur bitte, dass du das Monster wegmachst.“
Da sie so nett bat, konnte ich nicht widerstehen, klappte das Stativ zusammen und räumte es in seine Kiste.
Den Erinnerungen an diese Zeit voller Stress und Wachstum, voller Wandel und Hoffnung, voller Ängste und Lebensfreude würde ich später auch nachspüren können, ohne sie im Bild festgehalten zu haben.
(Danke für die Schreibeinladung an „Christiane“ und für die Wortspende zu dieser Zehn-Satz-Geschichte an „Anna-Lena„.)