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Firmennachfolge
„Der hat sich seine Pfründe gesichert“, murmelte Wolfgang, Justiziar und Testamentsvollstrecker der AS Messgeräte GmbH & Co. KG München. Er speicherte die Dateien, die er zuletzt heruntergeladen hatte, auf seinem Stick, fuhr das Betriebssystem des Firmenrechners hinunter und schaltete den Computer aus.
„Sagten Sie etwas, Herr Doktor Sauer?“, fragte die alte Dame, die als Sekretärin für Andreas Schullerus, den verstorbenen Firmenchef, gearbeitet hatte, und fingerte nach einer Zigarette.
„Lassen Sie die Zigarette in der Schachtel“, zischte Wolfgang sie an.
„Als Herr Schullerus noch lebte“ … 92 Jahre alt war er gewesen, der alte Fuchs, als er starb.
„Zigarette in die Schachtel“, wiederholte Wolfgang. „Und bringen Sie den Hund weg. In diesem Büro brauche ich keine Kuscheltiere.“
Die Frau fasste den Zwergpudel am strassbesetzten Halsband und steckte ihr Zigarettenetui in eine teuer aussehende Lederhandtasche, ehe sie ging.
„In fünf Minuten sind Sie wieder hier, Frau Petrescu. Allein.“ Wolfgang erhob sich ohne die elektrische Aufstehhilfe des mondänen Bürosessels, den Schullerus sich gegönnt hatte, und humpelte zum bodentiefen Fenster.
Verdammte Beinprothese!
Der Blick auf die Münchner City war von hier aus unschlagbar, aber die Häuser und Parks blieben heute in den gleichen Nebel gehüllt wie die Geschäftsprozesse der AS Messgeräte GmbH & Co. KG. Woher das Geld kam, das Schullerus einnahm, wohin er es fließen ließ, hatte der Justiziar eben entdeckt. Großlieferungen nach Libyen, Somalia, Sudan … Überweisungen in die Schweiz. Den Erben musste Wolfgang noch finden: einen gewissen Uwe Schneider.
Es gab Tausende davon. Es war sicher nicht der Uwe.
An der Wand gegenüber dem Schreibtisch, hinter einer verspiegelten Mahagonitür, befanden sich jede Menge teure Alkoholika. Wolfgang würde sie wegschütten lassen. Flüchtig nahm er das eigene Gesicht im Schrankspiegel wahr, die Brandnarben auf Wangen und Stirn, die dunkle Brille. Er fasste mit der linken Hand an den rechten – künstlichen – Ellbogen.
Verdammter Phantomschmerz!
(Zweite Geschichte nach den neuen Regeln für die abc-Etüden von Christiane: Nicht mehr 3 Wörter in 10 Sätzen sind zu einer Geschichte zu verbinden, die Drei-Impulswort-Geschichte muss jetzt maximal 300 Wörter lang sein. Außerdem sind die Impulswörter jetzt nicht mehr eine Woche lang gültig, sondern zwei Wochen lang. Sie lauten diesmal Pfründe, mondän und lassen und wurden gespendet von Bernd. Danke euch beiden für die Anregung!)
Schlummerliedchen
„Maikäfer, flieg“, sang die alte Frau, wiegte das dreizehn Monate alte Mädchen in ihren langsam verkrampfenden Armen und sah dem braunen Insekt nach, wie es zum trüben Licht der Laterne hinüberschwirrte, das sich kaum gegen die beginnende Dämmerung durchsetzen konnte. Das Mädchen hatte aufgehört zu schreien, nuckelte an seinem Daumen und weinte nur noch leise.
„Dein Vater ist im Krieg“, sang die alte Frau. Der Maikäfer hatte das Licht erreicht und stieß an das heiße Glas der Laterne, sodass man es zischen hätte hören können, wenn die Laterne näher an der Gartenbank gestanden hätte. Er taumelte kurz und fiel dann in die Dunkelheit, aufs schwarze Kopfsteinpflaster, auf dem der Mairegen des vergehenden Tages noch matt glänzte. Das Baby, das viel zu klein und viel zu dünn für seine dreizehn Monate war, versuchte, den Daumen seiner Großmutter in den Mund zu ziehen, als hoffte es, daraus etwas Milch saugen zu können.
„Deine Mutter ist in Pommerland“, sang die alte Frau, „Pommerland ist abgebrannt …“ Es stimmte nicht, denn die Mutter war in der Ukraine, als Zwangsarbeiterin in einem Arbeitslager, aber was machte das schon für einen Unterschied? Wäre die kleine Sigrun ein Monat jünger gewesen, hätte Ilse nicht im Viehwaggon mitfahren müssen, aber leider war ihr Kind einen Monat zu früh zur Welt gekommen.
„Maikäfer, flieg“, sang die alte Frau, streichelte einen schweren Regentropfen vom Haar des eingeschlummerten Baby und sah zur Laterne hinüber, um die jetzt keine Insekten mehr schwirrten.
(Danke, liebe Christiane, für die Einladung zu den abc-Etüden, bei denen diesmal aufgrund meiner eigenen Wortspende (danke allen, die sie genutzt haben!) die drei Wörter „Maikäfer“, „schreien“ und „leise“ in maximal zehn Sätzen unterzubringen waren.)
Erinnerung für Kriegs-Urenkel
„Du willst wissen, was Quadratscheißer sind?“, fragte Juliane, die alte Lehrerin, die sie Julischka nannten, ihren Urenkelsohn. „Das kann ich dir sagen – ich habe es nämlich erlebt, damals, als sie uns in die Ukraine verschleppten, in Viehwaggons, im Januar 1945, ohne Heizung, ohne Toiletten. Die Männer, na, eigentlich waren es unsere Jungs, Hermann und Ojnzo und Mischi, mit denen ich zur Schule gegangen war, die sägten ein Quadrat aus dem Boden des Waggons, mit einer Säge, die sie von den Russen hatten, oder von den Ukrainern, keine Ahnung, von den Sowjets jedenfalls, damals sagten wir Russen zu allen. Und durch dieses Loch mussten wir alle, Männer und Frauen und Jungen und Mädchen, also, wenn wir mussten, was wir mussten …“, Julischka sprach selten von „Scheiße“ oder ähnlich vulgären Dingen, aber Adrian verstand auch so, was sie meinte.
„Der Krieg war faktisch zu Ende damals, oder so ähnlich“, fuhr Julischka fort, „Rumänien hatte nach dem Putsch vom 23. August 1944, den sie nachher jahrzehntelang die Befreiung vom faschistischen Joch nannten, das Militärbündnis mit dem Deutschen Reich gekündigt und sich im Krieg auf die Seite der Alliierten geschlagen. Postfaktisch, wie ihr heute sagen würdet, also gefühlt, für uns Deportierte, war natürlich gar nichts zu Ende, außer unserer Hoffnung auf eine Zukunft und ein normales Leben irgendwann in absehbarer Zeit. Wir wussten nicht, wohin wir fuhren, wir wussten nicht, was wir dort sollten, wir wussten nicht, wie lange wir bleiben würden, und wir wussten auch nicht, ob wir je wieder zurückkommen könnten zu unseren alten Eltern, unseren kranken Großeltern, unseren kleinen Kindern. Alles war, modern gesprochen, ergebnisoffen, und das Ergebnis war, wie sich später zeigte, auch nicht für alle gleich, es brachte manche von uns nach Hause zurück, verschlug andere nach Deutschland und bedeutete für viele ein kaltes Grab in der ukrainischen Fremde. Auch für dich, mein Kind, ist das nicht unwichtig, denn mich schickten sie nach Ülzen in Niedersachsen ‚zurück‘, wo ich nie gewesen war, und das taten sie nur, weil ich im Lager schwanger wurde, von einem ukrainischen Wärter, dessen Namen ich nicht einmal kannte.“
Hätte es ihn nicht gegeben, folgerte Adrian, gäbe es ihn selbst auch nicht, und wäre Julischka nicht in ein Land geschickt worden, das sie nicht kannte, wäre seine Oma vielleicht Ukrainerin geworden, und sie hätte seinen Opa, der aus Dänemark stammte, nie kennengelernt – wie zufällig und beliebig doch Geburtsorte und Herkunft waren!
(Mit einem Dankeschön an Christiane für ihre Einladung zu den abc-Etüden, diesmal die Nummer 2 mit den Wörtern „Quadratscheißer“, „postfaktisch“ und „ergebnisoffen“, die wie immer in maximal 10 Sätzen unterzubringen waren. )
Sabotage
„Ich hab mal einen Flugkapitän gekannt“, sagte Franziska und ließ ihr Strickzeug sinken. Eine Masche löste sich von der Nadel, dann noch eine und noch eine, aber sie schien es nicht zu bemerken. Regenschnüre rannen die Fenster des Kaffeehauses hinunter und lösten sich zu Tropfen auf, die einander mal schräg, mal krumm nach unten verfolgten, bis sie irgendwo, meist lange vor dem Ziel, ihre Absicht vergaßen und stehenblieben, ehe sie sich mit anderen Tropfen zusammentaten und sich erst schwerfällig und dann schneller wieder in Bewegung setzten.
„Einen Lug-Agenten?“ Johannes nestelte an seinem Hörgerät und klopfte mit dem Kopf seiner Pfeife so unkoordiniert wie unbeabsichtigt auf den Kaffeehaustisch. „Entschuldige“, murmelte er erklärend dazu, „Parkinson.“ Die Pfeife roch nach kalter Asche. Seit Jahren hatte niemand mehr daraus geraucht.
„Einen Flug-ka-pi-tän“, wiederholte Franziska, so laut es ihre Stimme hergab, und strich sich eine weiße Haarsträhne von der Wange. „Der hat gesagt, Fliegen ist im Prinzip wie Busfahren, nur schneller und höher.“
„Ich fahre gern Bus“, sagte Johannes und versuchte, die Pfeife aufzuheben, die ihm aus den Händen gerutscht war. Es gelang ihm nicht. Franziska nahm einen Schluck von dem koffeinfreien Kaffee, den die Pflegerin ihr eingegossen hatte.
„Was wollte ich denn … ach ja, Georg, so hieß der Flugkapitän. Wir haben uns bei der Diakonie getroffen, im Altkleiderladen. Da war er schon seit Jahren in Pension. Einmal in der Woche hat er dort ausgeholfen, im Laden.“
„Als Flugkapitän?“ Roselies nestelte ein Papiertaschentuch aus dem Seitenfach ihres Rollstuhls und tupfte sich damit den Speichel aus dem Mundwinkel. Seit ihrem Schlaganfall konnte sie den Speichelfluss nicht mehr kontrollieren.
„Hörst du nicht zu? Das war er damals schon lange nicht mehr.“ Franziska versuchte vergeblich, ihren Rücken geradezubiegen. „Ich war dort Praktikantin, hatte eben die letzte Klasse abgeschlossen.“
Wer war die fremde Alte im gegenüberliegenden Kaffeehausspiegel? Der Spiegel war halb blind, und das war gut, denn er zeigte Franziska ohnehin nicht die junge Frau mit blondem Haarkranz, klaren Augen und glatter, sommerbrauner Haut, die er hätte zeigen sollen.
„Sabotage ist das“, sagte sie und bemühte sich vergebens, die Maschen ihrer Strickarbeit wieder aufzunehmen.
„Was? Die Laufmaschen?“ Roselies lehnte sich in ihrem Rollstuhl zurück und schloss die Augen. „Sabotage“ war Franziskas Lieblingswort.
„Das ganze Leben ist Sabotage. Irgendwer ist immer da, der einer Steine in den Weg legt, Sand ins Getriebe streut oder die Suppe versalzt.“
„Damals im Krieg …“, begann Johannes. „Wir haben dafür sorgen müssen, dass kein Flugzeug den Flughafen verlassen konnte. Ich habe die Motoren ausgebaut, manipuliert und wieder eingebaut, mein Kumpel Jonathan hat Schmiere gestanden und meine Mutter hat uns heimlich Stullen mit selbst gemachter Bratwurst in den Hangar geschleppt …“
„Sag ich ja. Sabotage.“ Franziska schnitt dem blinden Kaffeehausspiegel eine Grimasse, eine pubertäre Gesichtsverrenkung, eingebettet in blassgraue, zerklüftete Haut.
„Pflichterfüllung“, widersprach Johannes. „Es war ein Befehl der Partei!“
„So etwas Ähnliches hat meinen Flugkapitän fast das Leben gekostet“, erzählte Franziska den Blümchen auf ihrer Kaffeetasse.
„Er hat die Maschine in die Luft gebracht und zu spät gemerkt, dass etwas damit nicht in Ordnung war. Nur mit großer Mühe hat er sie wieder landen können. Sie ist wohl verbrannt, aber er konnte sich retten. Danach konnte er nie wieder fliegen.“
„War das hier am Flughafen Wiesental?“, fragte Johannes. „Georg hieß der also? Lebt er noch?“
„Nein“, sagte Franziska.
Zu zweit allein
Die Sommerblüten in der trüben Glasvase auf dem Schreibtisch waren so trocken, dass der Luftzug, den Marianas Eintreten verursachte, einen Teil davon zu Staub zerfallen ließ, und in dem fensterlosen Raum war es so still, dass sie das Auftreffen der Blütenteilchen auf den Aktenblättern hören konnte. Das Knistern klang bedrohlich wie fernes Donnergrollen.
„Ich habe Kaffee organisieren können“, sagte der alte Mann und strich sich die zu langen Seitenhaare über die verschwitzte Glatze. „Ich habe sogar Zucker, extra für Sie.“
Es klang zynisch, aber Mariana hatte Durst, großen Durst, sie hätte jedes Getränk angenommen, und wenn es Gift gewesen wäre. Sie setzte die Tasse an die Lippen und trank einen langen Schluck.
Der Kaffee schmeckte bittersüß.
„Und jetzt zu uns“, flüsterte der Alte. Es klang in ihren Ohren wie das Zischen einer Schlange, aber Mariana biss die Zähne zusammen und ging um den Schreibtisch herum, wie sie es jedes Mal tat, wenn er sie rief.
Außerhalb dieses schalldicht abgeschlossenen Bunkers, das wusste sie, konnte niemand es hören, wenn sie schrie.
Bittersüß
Weißt du noch, die Margeriten am Bunker?
Der Mohn?
Der lila Klee und das Zittergras, die Glockenblumen und Königskerzen?
Wir lagen auf unserer Picknickdecke mitten in den Sommerblüten, zerknitterten sie, zerquetschten ihre Schönheit, atmeten ihren bittersüßen Duft.
Über uns der gläserne Himmel, dunkelblau, mit einem gleißenden Lichtfleck schräg oben.
Wattewolken, nur zwei oder drei, auf Wanderschaft vom Wald zum Dorf, bauschig, gemächlich treibend im Wind.
Unter uns Verfall, Schimmelpilze, baumdurchwachsene Schutzräume, unsprengbare Erinnerung an Bomben und Krieg.
In meinem Einkaufsnetz ein Schwarzbrot, ein Stück Speck und ein Bund Lauchzwiebeln.
In der Tasche deiner Jeans dein Westpass.
Und – datiert auf den folgenden Tag – die Rückflugkarte in deine heimische Freiheit.
Zinnsoldaten
Hans hatte nie Soldat werden wollen. Aber eines Tages, Anno 1910, wurde ihm der bunte Rock einfach übergestreift, und niemand fragte danach, ob er das wollte, und er wurde in einen blaugrünen Pappkarton gestopft, der neben einem orangegelben Pappkarton in einer schwarz und rot bedruckten Spanschachtel lag.
„Das ist eure Kaserne“, sagte eine männliche Stimme lachend. Die neue Kleidung war schön warm, und draußen stürmte der Dezember.
„Stillgestanden! Im Laufschritt marsch! Präsentiert das Gewehr!“ Die männliche Stimme klang laut, aber nicht gefährlich, denn im Hintergrund schwang immer noch das Lachen mit.
„Was für unsinnige Befehle!“, sagte Hans zu Klaus, einem Soldaten aus der orangegelben Pappkaserne, und die beiden setzten sich vor ihre Kartonhäuser in der Spanschachtel und spielten Schach mit Figürchen, die noch winziger waren als sie selbst.
Hans trug einen roten Rock, und Klaus trug einen grünen. Die Grünröcke waren die Feinde der Rotröcke, sagte die männliche Stimme, die man von der geschlossenen Spanschachtel aus nicht sehen konnte.
Als die beiden Schachfreunde – genau wie die übrigen Grünen und Roten – gelernt hatten, wie man richtig stillsteht (das war das Wichtigste für Zinnsoldaten), wurde ein Zellophanpapier um die Spanschachtel gewickelt, und ein Pferdefuhrwerk brachte sie mit vielen anderen Schachteln in ein Spielwarengeschäft. Dort durften sie ein paar Tage lang ausruhen und so viel Schach spielen, wie sie wollten.
Aber der Urlaub war bald vorbei.
„Ich hätte gern eine Schachtel Zinnsoldaten für meinen Buben“, sagte eine weibliche Stimme. Sie gehörte der Mutter von Thomas, die auch die Tochter von Thomas war. Den großen Thomas hatte sie nie gekannt. Er war sieben Monate vor ihrer Geburt in Frankreich gefallen. „Die Soldaten sehen ein bisschen aus wie mein Vater auf dem alten Bild, das bei meiner Mutter im Schlafzimmer hängt“, fand sie. „Deshalb soll mein Bub sie zu Weihnachten bekommen.“ Sie packte die Schachtel in ihr Einkaufsnetz und legte sie zu Hause unter den Tannenbaum.
„Oh! Wie das strahlt!“, rief der kleine Thomas am Abend, als auch seine großen Brüder zu Besuch da waren. „So viele Geschenke! Und da! die schwarzrote Schachtel – oh! Zinnsoldaten!“
„Die hast du dir doch so gewünscht“, sagte die Mutter und lächelte. „Sehen sie nicht aus wie der Opa?“
Thomas antwortete nicht. Mit großen, gespannten Kinderaugen betrachtete er die Spanschachtel, öffnete sie, nahm die Figürchen heraus.
„Oh! Wie schön!“, sagte er.
Für Hans und Klaus waren seine Augen die eines gefährlichen, riesengroßen, unberechenbaren Ungeheuers. Denn gleich am Weihnachtsabend begann Thomas aufgeregt mit den beiden feindlichen Armeen Krieg zu spielen. Er ließ den rotberockten Hans gnadenlos auf seine grünberockten Schachfreunde losgehen, kommandierte „lauflauf!“ und „schieß-doch-endlich!“, und wenn einer nicht schießen wollte, warf er den Feigling einfach um.
Hans nahm das Zinngewehr fest in die Hand und zielte sorgfältig auf Klaus. Aber er drückte nicht ab. Die Welt drehte sich plötzlich vor seinen Augen, ihm wurde übel, und er ließ sich ins Bodenlose fallen, das unter dem Küchentisch lag.
„Tot! Tot!“, hörte er das Ungeheuer jubeln, das der kleine Thomas für ihn war.
Den Ruf hörte er noch oft, denn Thomas wurde es nicht müde, mit seinen zinnernen Armeen blutige Schlachten zu schlagen. Die Grünberockten und die Rotberockten, auch Klaus und Hans, bekamen Flecke und Risse davon, Schrammen und Wunden, aber Thomas schien das sogar zu freuen. Er spielte jahrelang mit seinen Zinnsoldaten. 1911. 1912. 1913. Erst als seine Stimme tiefer wurde, ließ er die Figürchen eine Weile in ihrer Schachtel.
Hans und Klaus genossen die Zeit, spielten Schach und vermissten Thomas nicht. Erst 1916 nahm der sie wieder in die Hand. Die Zinnsoldaten zitterten und fürchteten sein Spiel, aber er holte nur einen nach dem anderen aus der Schachtel, strich mit dem Finger über die rissig gewordenen Uniformen, legte sie wieder zurück und schwieg. Dann räumte er die Schachtel wieder ins Küchenregal neben das alte Brot, zog seinen Uniformrock gerade, richtete sich steif auf und ging fort aus der Küche seiner Mutter.
„Komm bald wieder, Junge!“, rief sie ihm nach. „Pass auf dich auf!“
„Bis bald!“ rief er. „Der Krieg wird bald gewonnen sein!“
Aber er irrte. Die Mutter sah Thomas niemals wieder. Dass auch der Krieg verloren ging, schien ihr dabei fast unwichtig.
Das Leben in der Spanschachtel war ohne die Schlachten und Feldzüge gut zu ertragen. Hans und Klaus ließen die Figürchen auf ihrem Schachbrett gegeneinander antreten. Schwarz gegen Weiß. Sie schlugen einander die Bauern vom Feld, bedrohten ihren jeweiligen König, schoben die Damen hin und her, verrückten die Burgen und ließen die Rösser springen. Manchmal gewann Hans, manchmal Klaus. Lustig war es immer.
Im Winter 1932 entdeckte Thomas‘ Schwester, die nach dem Tod der Mutter die Wohnung aufräumte, die verstaubte Spanschachtel mit den alten Zinnsoldaten. Sie öffnete den leicht beschädigten rotschwarzen Deckel und betrachtete die Figürchen gerührt.
„Wenn man sie ein wenig aufpoliert“, sagte sie zu ihrem Mann, “ dann wären die doch ein wunderhübsches Geschenk für Heiner!“
„Ja“, stimmte der zu. „In dieser schweren Zeit wird es wohl auch das einzige Weihnachtsgeschenk bleiben, das er bekommt.“
So zogen sie den kleinen Soldaten neue Uniformen an, rote und grüne, reparierten die Schachtel, packten sie in braunes Packpapier und legten sie unter den Christbaum.
Was an Heiligabend passierte, war für Hans und seine Freunde keine so große Überraschung wie für den kleinen Heiner: Dessen große, strahlende Kinderaugen glitzerten genauso gefährlich wie damals die von Thomas. Sofort brachte er die Roten gegen die Grünen in Stellung.
„Lauflauf!“ brüllte er. „Schieß doch endlich, Feigling!“
Er brüllte es 1933, 1934, 1935, 1936 … Dann wurde es wieder still. Lange.
Erst 1950 öffnete Heiner die Schachtel wieder, mit den zwei Fingern seiner linken Hand. Er zeigte die Figürchen den Kindern, die jetzt in seinem alten Zimmer wohnten. Andreas und Hannelore, Annemarie und Peter, Josefine und Michael, Franziska und Heinz-Otto staunten: „Zinnsoldaten!“, rief Andreas. „Dürfen wir damit spielen?“, fragte Josefine. Sie durften.
Als Heiner starb – er lebte nicht mehr lange – behielt Josefine die Figuren. Zu Weihnachten 1975 schenkte sie die alte Spanschachtel ihrer kleinen Monique. „Da steckt Geschichte drin, mein Mädchen“, sagte ihr Mann Henri zu seiner Tochter.
Geschichte? Die Zinnsoldaten Hans und Klaus rechneten ihr Alter nach. 65 Jahre. War das Geschichte?
Monique spielte nie mit den Zinnsoldaten. Sie stellte sie nur in ihr Mädchenzimmer in ein Regal neben Väschen und Döschen und staubte sie manchmal ab, wenn ihre Oma zu Besuch kam, weil Oma immer schimpfte, wenn der Staub nicht gewischt war. Als sie das Zimmer 2005 für ihre Zwillinge herrichtete, verschwanden die Figuren in ihrer Spanschachtel, und die Spanschachtel fand einen Platz am Kellerboden.
Dort entdeckten sie die Zwillinge im Dezember 2014.
„Wahnsinn“, sagte Natalie zu ihrem Bruder Marcel. „Zinnsoldaten!“
„Wie toll“, sagte Marcel, „die kann man nämlich gerade eintauschen – da läuft eine Tauschaktion ‚Kriegsspielzeug gegen Friedensspielzeug‘, vielleicht kriegen wir auf die Art einen Elektrobaukasten.“
„Au ja“, Natalie freute sich, „dann kann ich endlich Strom verlegen in meinem Puppenhaus!“
Sie packten die Spanschachtel mit den Zinnsoldaten, gaben sie am Tauschplatz ab und zogen wenig später tatsächlich mit ihrem neuen Elektrobaukasten davon. Hans und Klaus aber fanden sich wieder zwischen vielen anderen Zinnsoldaten, umgeben von Panzerchen, Krachpistolen, Kampfflugzeuglein und Datenträgern mit Ballerspielen.
„Was passiert mit uns?“, fragten sich die Zinnsoldaten und vergaßen ganz, miteinander Schach zu spielen.
„Was passiert mit uns?“, fragte auch Hans seinen Freund Klaus, auf den er noch nie hatte schießen können. Aber Klaus wusste es auch nicht.
Sie begriffen es erst, als die riesige Walze langsam, schwer und drohend auf sie zurollte.
„Das können sie doch nicht tun!“ sagte Klaus. „Wir sind doch Geschichte!“
Dann fuhr die Walze krachend über ihre kleinen Körper und drückte ihre Köpfchen flach auf den gepflasterten Rathausplatz.
Ein Mädchen in rosa Jogginghosen, einer zu großen grünbraunen Windjacke und schlammbespritzten gelben Gummistiefeln stand am Straßenrand und sah mit großen Augen zu.
„Aber die Püppchen“, sagte es leise zu einer alten Frau, die neben ihm stand. „Aber Oma – die Püppchen! Oh, Oma – sie machen die Püppchen ja tot!“
„Das sind Zinnsoldaten“, sagte die Frau. „Und du weißt doch, was mit Soldaten passiert, wenn sie verlieren.“
„Nicht nur bei uns daheim?“, fragte das kleine Mädchen.
„Nein“, sagte die Oma. „Überall. Überall auf der ganzen Welt.“