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Kummer-Los
Weglaufen, irgendwohin ins Nichts, weit weg.
Oder sich klein machen, winzig, in einem Mauseloch verschwinden.
Abtauchen, im Meer, auch auf die Gefahr hin, sich vom Geruch des ekelhaft jodhaltigen Seetangs übergeben zu müssen.
Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Nichts denken. Nichts fühlen.
Vor allem nichts fühlen.
Vor der kleinen Kapelle brannte die Oktobersonne auf die kahler werdenden bunten Bäume, und nach dem Regen dampfte der Friedhof wie ein schlecht belüftetes Gewächshaus. In der Kapelle war es kühl und dämmrig gewesen.
Joanna wurde sich bewusst, dass ihr Schwager Alfred an der Wahrheit kein Jota hatte fälschen wollen, damals, vor fünf Jahren, als er ihr versicherte, dass es niemals vorüber sein würde. Niemals?
Nein, er hatte sich geirrt, denn für ihn war es vorbei, seit einer Woche, zumindest nach menschlichem Ermessen. Kein Erinnern mehr an seinen Sohn Bernd, der sich als Fünfzehnjähriger das Leben genommen hatte. Keine Fehlschaltung mehr, dass seine Frau Beate am Wochenende wiederkäme, obwohl sie doch bei der Wanderung damals umgefallen und nicht mehr aufgestanden war.
Alfreds Kränze würden nicht so schnell welken wie vor fünf Jahren die seines Bruders Frieder. Der diesjährige Juli war wie damals heiß gewesen, selten unter 30 Grad im Schatten, fast unerträglich, aber der Juli war vorbei. Und der August. Und der September. Und vieles andere.
Joanna spürte den neu erwachten Seelenschmerz als Mantel um ihren Körper. Saß er links, wo das Herz schlug? Natürlich nicht. Er ergoss sich vom Kopf her in alle Organe, von innen nach außen, erstarrte dort wie die Schale einer Auster.
Rechts saß der körperliche Schmerz. Dort, wo Joannas Lunge nicht mehr komplett war, wo sich unter ihrer Brust eine Narbe bis zum Rücken zog. Wenn sie tief einatmete, spürte sie das Ziehen an den Rippen.
Ja, irgendwann war es wohl vorbei.
Vielleicht heute. Vielleicht morgen. Jedenfalls bald.
(Die Wörter für die obige Geschichte kommen von Frank. Die drei Begriffe lauten: Gewächshaus, jodhaltig, fälschen. Sie waren wie immer in maximal 300 Wörtern zu einer Geschichte zu verarbeiten. Danke, lieber Frank und liebe Christiane, für den Anstoß!)
Kater im Schnee
Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Tatjana saß bei Kerzenschein in ihrem Wohn-Ess-Schlaf-Arbeitszimmer und starrte auf das leere Katzenkörbchen, in dem noch vor einer Woche Pjotr, ihr schwarzer Kater mit der weißen Krawatte, sich gestreckt und gerekelt hatte. Sechs Tage war es jetzt her, dass Pjotr von einem Ausflug in den frisch gefallenen Schnee nicht zurückgekehrt war.
„A-B-C, die Katze lief in’n Schnee, und als sie wieder reinkam, da hatt’ sie weiße Stiefel an, ojemine, oje – die Katze lief in’n Schnee“, hatte das Radio dazu gedudelt, um Tatjana fand es noch besonders lustig und sang mit, und ein Ohrwurm schlich sich in ihr Hirn, den sie seither nicht wieder loswurde.
Nur dass Pjotr nicht mehr reingekommen war mit seinen weißen Stiefelchen. Er war ausgebüxt, durch die Hecke, über den vereisten Gehweg auf die vereiste Straße, ehe ein Räumfahrzeug vorbeigekommen war. In Tatjanas Kopf wechselten sich Bilder von erfroren-steifen bis zu blutüberströmt-verunfallten Katerchen ab, wurden gewaltsam ersetzt von schnurrenden Tierchen in fremden, aber warmen Wohnzimmern, von verängstigt miauenden Wesen in mies geführten Tierheimen und von apathisch abwartenden in Versuchslabors.
Nein, Tatjana würde sich nicht zur Närrin machen, würde es nicht zum 98. Mal überprüfen, um wieder nur festzustellen, dass in ihrem Vorgarten doch nichts war, dass sie sich wie immer verhört, dass ihre Verzweiflung ihr einen Streich gespielt hatte; sicher war auch das Geräusch gedämpfter Laufschritte über den verschneiten Gartenweg nur Illusion, und das dumpfe Bummern an der Haustür nichts als Einbildung. Nur ein kurzer Blick durch den Türspion, sicherheitshalber … ein Blick, ein Schreck, ein Schrei, eine Erkenntnis.
Die Hoffnung stirbt zuletzt.
(Hier ist die Geschichte Nummer 5 aus der Etüden-Reizwörterliste von Christiane, aus der jeweils drei gewählt – Hoffnung, Kater, Kerzenschein – und in zehn Sätzen abgehandelt werden sollten. Sie waren für die Vorweihnachtszeit bestimmt, kommen aber krankheitshalber erst jetzt dran.)