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Schlummerliedchen

„Maikäfer, flieg“, sang die alte Frau, wiegte das dreizehn Monate alte Mädchen in ihren langsam verkrampfenden Armen und sah dem braunen Insekt nach, wie es zum trüben Licht der Laterne hinüberschwirrte, das sich kaum gegen die beginnende Dämmerung durchsetzen konnte. Das Mädchen hatte aufgehört zu schreien, nuckelte an seinem Daumen und weinte nur noch leise.

„Dein Vater ist im Krieg“, sang die alte Frau. Der Maikäfer hatte das Licht erreicht und stieß an das heiße Glas der Laterne, sodass man es zischen hätte hören können, wenn die Laterne näher an der Gartenbank gestanden hätte. Er taumelte kurz und fiel dann in die Dunkelheit, aufs schwarze Kopfsteinpflaster, auf dem der Mairegen des vergehenden Tages noch matt glänzte. Das Baby, das viel zu klein und viel zu dünn für seine dreizehn Monate war, versuchte, den Daumen seiner Großmutter in den Mund zu ziehen, als hoffte es, daraus etwas Milch saugen zu können.

„Deine Mutter ist in Pommerland“, sang die alte Frau, „Pommerland ist abgebrannt …“ Es stimmte nicht, denn die Mutter war in der Ukraine, als Zwangsarbeiterin in einem Arbeitslager, aber was machte das schon für einen Unterschied? Wäre die kleine Sigrun ein Monat jünger gewesen, hätte Ilse nicht im Viehwaggon mitfahren müssen, aber leider war ihr Kind einen Monat zu früh zur Welt gekommen.

„Maikäfer, flieg“, sang die alte Frau, streichelte einen schweren Regentropfen vom Haar des eingeschlummerten Baby und sah zur Laterne hinüber, um die jetzt keine Insekten mehr schwirrten.

(Danke, liebe Christiane, für die Einladung zu den abc-Etüden, bei denen diesmal aufgrund meiner eigenen Wortspende (danke allen, die sie genutzt haben!) die drei Wörter „Maikäfer“, „schreien“ und „leise“ in maximal zehn Sätzen unterzubringen waren.)

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