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Stummes Rufen
„Komm her“, sagte Franz-der-Fisch, „komm her zu mir!“
Er sagte es mit seinen großen, grünen Augen zu niemand Bestimmtem, denn niemand außer ihm war da, und er wusste es. Trotzdem bettelte er stumm mit halb geöffneten Lippen um Beachtung.
Warum kam denn keiner? Wo waren alle? Gut, auf Harry-den-Hai verzichtete er gern, und mit Walter-dem-Wal konnte er auch wenig anfangen. Aber Dietmar-der-Delfin? Was war mit dem? Wie herrlich hätte Franz mit ihm spielen können, wie oft hatten sie es zusammen getan!
War er etwa Manfred-dem-Menschen ins Netz gegangen? Bloß das nicht! Ein Dasein im Aquarium eines zoologischen Gartens war das Schrecklichste, das sich Franz und Dietmar je ausgemalt hatten. Roberta-die-Robbe, der die Flucht aus einem Zoo gelungen war, hatte gar nicht aufhören können, Horrorgeschichten darüber zu erzählen.
„Komm her, du“, bettelte Franz weiter mit den Augen, bettelte ins Leere hinein, sinnlos, denn in dem Gewässer, das sein Zuhause war, lebte außer ihm nichts mehr, und die Reste des aufblasbaren Plastikkrokodils, die blaurosa an einem vorspringenden Unterwasserfelsen baumelten, konnten Franz nicht antworten, hätten es nicht einmal zu der Zeit gekonnt, als der Strand noch sauber und voller Menschenkinder gewesen war, die fröhlich ihre Sandburgen gebaut hatten.
(Diese Geschichte entstand als Bildbeschreibung während eines Schreibworkshops bei der Lektorin und Schreibtrainerin Maike Frie in Münster. Darzustellen, aber nicht zu nennen war der Begriff „traurig“ anhand des Aussehens eines bunten Fisches auf schwarzem Grund.)
Die Babymuschel
Die kleine Muschel lag allein am Strand und weinte, weil sie so allein war. Sie wollte zu ihrer Mamamuschel oder zu ihrer Papamuschel, zu irgendeiner Elternmuschel eben, oder zumindest zu einer Omamuschel oder einer Opamuschel. Sie war doch noch ein Baby!
Zwar hatte der Straßenlöffel, der neben ihr auf der Strandpromenade lag, auch kein Zuhause, keine Straßengabel, kein Straßenmesser kümmerte sich um ihn, aber das war etwas anders: Er brauchte keine Mamamilch mehr.
„Die brauchst du auch nicht“, schrie die Scherenmöwe, die im Vorbeifliegen den blauen Himmel zerschnitt, „Muscheln kriegen sowieso keine Mamamilch, das steht doch in allen Algenbüchern, und jeder Dummfisch weiß es!“
„Ich bin aber kein Dummfisch“, wollte die Babymuschel sagen und konnte es natürlich nicht, weil Muscheln nicht reden können und Babys auch nicht und Babymuscheln schon gar nicht.
Aber zum Glück war auch Johanna da, die mit ihrem Papa eine Art Kescher-Ferien am Strand verbrachte, und Johanna wusste genau, was Babys brauchen, denn sie hatte ein kleines Brüderchen, das nie mit durfte zu den Papa-Wochenenden, weil es noch Mamamilch brauchte. Und so half Johanna der Babymuschel, das zu sagen, was sie bestimmt meinte, und der Papa half Johanna und dem Muschelbaby, die Muschelmama und den Muschelpapa, zwei Muschelomas und einen Muschelopa am Strand zu finden.
Nur den zweiten Muschelopa fanden sie nicht.
„Das geht auch nicht“, sagte Johanna, „der andere Muschelopa ist ja totgegangen. Wie mein Opa Bernd, der dein Papa war.“
„So wird es sein“, sagte der Papa und half Johanna und dem Muschelbaby ein bisschen beim Weinen.
(Diese Geschichte entstand als Reizwortgeschichte während eines Schreibworkshops bei der Lektorin und Schreibtrainerin Maike Frie in Münster. Die Reizwörter waren ElternMuschel, StraßenLöffel, ScherenMöwe, AlgenBücher und KescherFerien. Die Wörter durften, mussten aber nicht alle verwendet werden.)
Wehrlos
Die Depression war eine Wanderdüne, die das Meer des Lebens Mareike in die Seele gespült hatte, damals, als Joanna anrief, um ihr zu sagen, dass Julius heute nicht heimkommen würde, dass er nie wieder heimkommen würde, weil er heimgegangen war, heim ins Meer, das er so geliebt hatte, manchmal, dachte Mareike, mehr geliebt als sie, seine Ehefrau, vielleicht sogar mehr als Juliane, ihre gemeinsame Tochter, die jetzt irgendwo in Paraguay oder Venezuela wohnte, immer abwechselnd, und die sich nur alle paar Monate über diesen neumodischen elektronischen Kurznachrichtendienst meldete – „alles okay, Mama, hoffe, bei dir auch“ – und Schluss …
Dabei hatte sich Mareike an dem Tag so pudelwohl gefühlt in ihrer Haut, pudelwohl im wahrsten Sinn des Wortes, weil sie sich endlich dazu durchgerungen hatte, die Pudeldame Fiffi von deren Züchterin abzuholen, um nicht mehr so allein zu sein in den langen Nächten, die Julian auf See verbrachte und Juliane, damals noch ein Teenager, in Diskos durchtanzte oder auf LAN-Partys durchspielte, durchchattete, was wusste Mareike schon von der Welt ihrer Tochter, die so anders war, als es ihre eigene in deren Alter gewesen war.
Schwer und getränkt von Tränen hatte sich die Traurigkeit im Getriebe ihres Lebens festgesetzt wie feiner, nasser Sand, hatte das Räderwerk ihres Alltags zum Stillstand gebracht, ihre Hoffnungen gelöscht, ihre Träume und Pläne mit einem unhörbaren Hyperknall zum Platzen gebracht, von jetzt auf gleich, einfach so. Irgendwann, viel später, versiegten die Tränen, und Mareike spürte wieder die leichten Brisen, die das Meer übers Land schickte, um den Strandhafer zu streicheln, nur dass sie es versäumt hatte, sich zum Schutz vor der wandernden Düne rechtzeitig Strandhafer vor die Seele zu pflanzen, sie war kein Kind der See, nur eine Landratte, die das Meer wie Treibholz ans Ufer gespült hatte, um sie dort achtlos, aber noch lebendig liegenzulassen.
Nach und nach trockneten die Millionen Sandkörner der Trauer im Getriebe ihrer leer gewordenen Tage, und jeder kleine Wind trieb sie tiefer und tiefer in ihr schutzlos brach liegendes Inneres, aus dem die Tränenströme alles davongetragen hatten, was an Julian (und auch an Juliane) erinnerte. Selbst Fiffi schaffte es bald nicht mehr, gegen die Wellen der Sinnlosigkeit anzubellen, die immer häufiger aus dem Nichts erwuchsen, um in Mareike jeden Lebensmut zu überfluten und zugrunde zu richten.
Jetzt also gab es auch Fiffi nicht mehr, vergiftetes Fleisch hatte ihr jemand gegeben, jemand, der freie Hand brauchte, um Mareikes Erdgeschosswohnung nach Wertsachen zu durchwühlen, vergeblich zu durchwühlen, weil da nichts war, und sie hinterher aus Wut darüber so zu verwüsten, dass sie für Mareike auf Wochen hinaus fast unbewohnbar wurde. Selbst für die Morgentränen zwischen Frühstück und Zähneputzen war Mareike danach zu müde geworden, und mit dem Schreiben der Morgentexte in ihrem Tagebuch hatte sie schon lange aufgehört.
Stumm saß sie da, starrte aufs Meer und spürte dem Brennen in ihrem Körper nach, der so hohl war wie ein Gefäß, dessen Inhalt jemand in den Ausguss gekippt hat, hohl, verschmutzt und von innen her wund, eine einzige entzündete, nicht heilende Verletzung, aber es gelang Mareike nicht mehr, sich zu freuen, dass sie überhaupt noch etwas spürte. Sie wusste, dass die Wanderdüne schon da war, dass sie das Haus ihres Lebens zerquetschen würde, unaufhaltsam, mit grausamer Langsamkeit, und dass sie, Mareike, machtlos darauf warten würde, weil sie nicht mehr wusste, warum sie sich dagegen wehren sollte.
(Mit einem Dankeschön an Christiane für ihre Einladung zu den abc-Etüden, diesmal die Nummer 1 mit den Wörtern „Hyperknall“, „Wanderdüne“, „pudelwohl“, die wie immer in maximal 10 Sätzen unterzubringen waren.)
Leere
Das Meer holte weißgrünen Schaum aus der Unendlichkeit, zerschmetterte ihn an den Felsen und pinselte daraus abstrakte Muster in den Ufersand. Gott war ein Wassermaler. Es gab keine Zeit. Kein Jetzt, kein Nachher, kein Gestern, kein Morgen, kein Später und kein Irgendwann. Es gab nur die Ewigkeit.
Einen Urlaub lang.
Irgendwo weit hinten – sehen konnte ich ihn nicht – lag Maximilian, in dem Liegestuhl, den er heute Morgen unserer Privatvermieterin abgebettelt hatte. Vermutlich döste er. Falls er nicht noch dabei war, eines der Sudokus zu lösen, die er in Überzahl in unseren Koffer gestopft hatte. Sonst war da nichts. Kein Haus, kein Auto, kein Kiosk, kein Mensch, keine Muschel, keine Qualle, nicht einmal eine Möwe. Himmel und Wasser spielten mit der Hitze Federball. Der Himmel warf sie aufs Wasser, das Wasser warf sie zurück. Wieder, wieder und wieder. Die Luft stand flimmernd am Horizont und wartete vergeblich auf den Seewind, der sie über Meer und Land verwirbeln würde wie ein Ventilator.
Gern hätte ich meine Badelatschen ausgezogen, aber der Sand war zu heiß dafür. Ob die Kinder in Annegrits Schule, tausende Kilometer von hier, jetzt hitzefrei hatten? Egal. Annegrit hatte kein hitzefrei mehr. Und keine Ferien. Und sie würde nie wieder die Schule schwänzen, um durch den Regen zu rennen. Die Schwimmflügel, die ich ihr letzten Sommer gekauft hatte, in ihrer Lieblingsfarbe Neonpink, lagen originalverpackt in ihrem Kinderzimmer.
Ich presste die Lippen zusammen, fuhr mir mit der Zunge über die Mundwinkel und schmeckte Salz. Wie ich die Sonne hasste! Diese Sonne, die wie ein künstliches Höhenfeuer auf die Erde herunterbrannte, ein Höhenfeuer ohne Knistern, ohne Qualm, ohne Ende.
Annegrits Zimmer war abgeschlossen und würde es bleiben. Bis irgendwann … aber … es gab ja kein Irgendwann mehr. Kein Auto. Keinen Kiosk. Keine Annegrit. Nie wieder würden ihre Sommersprossen um ihre Stupsnase tanzen, wenn sie verschmitzt versuchte, Maximilian und mich gegeneinander auszuspielen, um trotz aller Verbote an ihre Gummibärchen oder ihr abendliches Ballspiel zu kommen.
Ich fror plötzlich und wickelte mir mein Strandkleid fester um die Schultern. Irgendwo schrie ein Kind. Irgendwo, aber nicht hier. Und nicht heute. Ich drehte mich landwärts und folgte den Spuren meiner Badelatschen zurück durch den glühenden Sand. Es gab keine Zeit. Kein Jetzt, kein Nachher und kein Irgendwann.
Das Meer holte weißgrünen Schaum aus der Unendlichkeit, zerschmetterte ihn an den Felsen und pinselte daraus abstrakte Muster in den Ufersand. Gott war ein Wassermaler.
Und nein, ich verstand ihn nicht.
(Mit Dank an „Christiane“ für die Anregung, aus den zehn Wörtern Badelatschen, Hitzefrei, Höhenfeuer, Liegestuhl, Qualle, Qualm, Schwimmflügel, Sommersprossen, Ventilator und Wassermaler einen Text zusammenzusetzen, in dem Regen eine Rolle spielt; diese Geschichte ist mein vierter Versuch dazu.)
Neuanfang
Veronika stopfte die Badelatschen ihres Mannes in den blauen Müllsack neben der Eingangstür, in dem schon die quietschgelben Schwimmflügel von Marion und der kaputte Ventilator lagen. Sie strich sich eine widerspenstige graue Strähne aus dem Gesicht und stellte dabei erstaunt fest, dass die tiefen Furchen, die von ihren Augen zum Mund hin führten, nass waren wie kleine Rinnsale. Sie merkte schon lange nicht mehr, wenn sie weinte.
Eigentlich war sie froh, die Badelatschen loszuwerden. Schon vor Jahren (oder waren es Jahrzehnte?) hatte sie ihren Mann bei jeder Altkleider-Aufräumaktion gebeten, die Schuhe dazuzulegen. Deren Farbe war verblichen, das Material (billiges Plastik) vor Altersschwäche spröde und rissig geworden. Aber Joachim hatte sich nie von Schuhen trennen können. Eine Schwäche, die Veronika immer gehasst hatte. Und die sie jetzt vermisste, oh, so sehr … noch einmal diesen Streit, bitte, noch einmal, nur noch einmal!
Es war ein dummer Wunsch. Das Leben hatte Joachim endlich von den Schuhen und von so vielem anderen getrennt, das er nicht hatte loslassen wollen. Erst war er vom Läufer zum Rollstuhlfahrer geworden, hatte die Badelatschen nur noch angucken können, voller Wehmut und Selbstquälerei. Dann wurde aus dem aktiven Rollstuhlfahrer ein passiver Rollstuhlnutzer. Vor einem Jahr, vier Monaten und 22 Tagen hatte Veronika seinen letzten Wunsch erfüllt und seine Asche ins Meer streuen lassen. Wie absurde Sommersprossen hatten die schwarzgrauen Körnchen eine Weile auf den gleißenden Wellen getanzt, ehe sie in die Tiefe gesunken waren.
Aus.
Vorbei.
Auch Marion würde an ihren Schwimmflügeln nie wieder Interesse zeigen, an diesen Gummidingern, die keine zehn Minuten mehr die eingepumpte Luft halten konnten. Veronika sah Joachim und das Kind damit im Uferwasser planschen, in den Gischt brechender Wellen springen, hörte Marions Jauchzen und Joachims beruhigend tiefe Stimme, wenn Marion vor Angst brüllte, weil sie eine Qualle gesichtet hatte, freute sich, wenn er sie in seinen starken Armen auffing und mit ihr zum Liegestuhl gerannt kam, dass um sie herum das Wasser nur so spritzte. Zu dem Liegestuhl, in dem Veronika saß und ihren Studienbrief bearbeitete. Zu dem Liegestuhl, den gestern der Sperrmüllwagen abgeholt hatte.
Was Marion wohl im Moment tat und dachte? Zum Glück hatte sie nicht den Typen geheiratet, den Veronika insgeheim immer den „Wassermaler“ nannte, weil er ihr so windig vorkam wie der Schneider, der weiland dem berühmten Kaiser die neuen Kleider verpasst hatte, die niemand sah. Ein Luftikus, der mit immer neuen „Projekten“ ohne Inhalt viel Geld verdienen wollte und es niemals tat. Viel Qualm um nichts. Rauch ohne Flammen.
Irgendwo in Südamerika war Marion stattdessen gelandet, Veronika wusste nicht einmal das Land. Irgendwo in einem Dorf im Urwald, in dem es weder Internet noch Telefon, weder Strom noch eine Poststation gab. Missionarin war sie geworden, der kleine Wildfang, ausgerechnet. Nur ganz selten erhielt Veronika über ihre Zentrale eines dieser Rundschreiben, in dem sie aller Welt (und darunter auch ihrer Mutter) erzählte, was sie in den letzten Monaten erlebt hatte. Und immer ging es dabei um die Menschen in ihrem Dorf, ihre Krankheiten, ihren Alltag, ihren Glauben. Nie um Marion selbst. Ob sie inzwischen einen Partner hatte? Kinder vielleicht? Oder eine Partnerin? Ob sie noch lebte? Veronika wusste es nicht.
Sie wusste nur, dass Marion nicht zurückkommen würde, obwohl es niemals einen ernsthaften Streit zwischen Mutter und Tochter gegeben hatte. Sie hatte sich nur eben für diesen seltsamen Lebensweg entschieden, und Veronika hatte sich damit abfinden müssen. Marion und die Tropen. Eine abwegige Vorstellung – und doch Realität. Wie sehr hatte Marion immer unter zu heißen Sommern gelitten! Wenn es in der Schule „hitzefrei“ gab, verkroch sie sich im kühlen Keller, mit einer Tüte voller Butterkekse und einer Karaffe mit Wasser, in die sie die gesamten Eiswürfel aus dem Gefrierschrank warf, und einem Abenteuerroman zweifelhafter Qualität, den die Mutter lieber nicht sehen sollte. Auf Spanisch oder Portugiesisch. Damit die Eltern nicht beurteilen konnten, was sie las.
Veronika betrachtete die blutrünstig aussehenden Titelseiten der zerlesenen Taschenbücher und schichtete sie in den Karton zu dem übrigen Altpapier. Gehäckselte Kontoauszüge, Uralt-Steuererklärungen, Liebesbriefe von Joachims erster Frau aus der Zeit vor seiner ersten Ehe, Mietverträge für Wohnungen, die seit dreißig oder mehr Jahren von anderen bewohnt wurden, Studienunterlagen, Schulhefte, Postkarten aus aller Welt, zerfledderte Notenblätter. So vieles sammelte sich an, wenn der Platz dafür vorhanden war.
Aus.
Vorbei.
In Zukunft würde Veronika keinen Platz mehr für das ganze Zeugs haben. Nur das Nötigste durfte mit. Nie wieder Hitzefrei. Dort, wo sie hinging, gab es kein Meer, keine Terrasse, keinen Balkon, keinen Garten, keinen Sommer. Nur Eis und Schnee. Und zwei hoffentlich gut beheizte Zimmer, eines zum Wohnen, eines zum Arbeiten. Ohne Mobilfunk. Ohne Festnetzanschluss. Nur ein Hubschrauber würde einmal wöchentlich landen, um die Post einer Woche mitzubringen (hoffentlich manchmal auch eine Nachricht von Marion!) und ihre Arbeitsergebnisse der letzten Tage zu ihren Auftraggebern zu befördern.
„Es ist nicht viel anders als bei meiner Tochter“, hörte sich Veronika zum Capo des Entrümpelungsunternehmens sagen, der gerade neben ihr Kaffeepause machte. „Nur kälter. Viel kälter. Und nicht so religiös. Aber sonst …“ Der Capo sog an seiner Zigarette und schwieg. Sollte er doch. Der Qualm würde Veronika nicht mehr lange stören.
Draußen prasselte der Regen auf den Asphalt, sprühte aus den Pfützen wolkenwärts, tanzte schnürend im Wind. Die Pappeln verneigten sich und winkten mit den Ästen, als wollten sie sich von Veronika verabschieden, während die sich vom Taxi zum Flughafen fahren ließ. Oben auf den Hügeln entlang des Weges hatten die Höhenfeuer Mühe, sich gegen das herabströmende Wasser zu behaupten.
„Das war’s dann hier“, sagte Veronika zu der Taxifahrerin, ehe sie ausstieg und zum Gate ging. Noch einmal machte sie sich auf ins Unbekannte, zu einem großen, letzten Abenteuer. Warum auch nicht? Sterben konnte sie überall gleich gut.
(Mit Dank an „Christiane“ für die Anregung, aus den zehn Wörtern Badelatschen, Hitzefrei, Höhenfeuer, Liegestuhl, Qualle, Qualm, Schwimmflügel, Sommersprossen, Ventilator und Wassermaler einen Text zusammenzusetzen, in dem Regen eine Rolle spielt; diese Geschichte ist mein dritter Versuch dazu.)
Feuerwasser
Ioana sah wieder einmal zum Himmel hinauf. Stahlblau wölbte er sich über das zundertrockene Land. Keine Wolke in Sicht. Sie ging zurück ins Haus, schloss die Terrassentür, sperrte die brüllende Hitze aus.
„Wie ist die Wetterprognose?“, fragte sie ihren Bruder zum siebtenmal. Sie hatten schon seit zwei Wochen hitzefrei, bei Temperaturen über 40 Grad konnte in dem kleinen Betrieb kein Mensch arbeiten. Zumal es dort keine Klimaanlage gab.
Mihail zückte das Handy, wischte mit dem Finger über den kleinen Bildschirm.
„Mist! Kein Netz!“ Er schüttelte das Gerät, als könne er dadurch die Verbindung herstellen.
„Lass das!“, sagte seine Schwester genervt. „Mach lieber den Fernseher an, gleich müssen Nachrichten kommen.“
Während Mihail nach der Fernbedienung suchte, änderte sich irgendwas am Geräusch des Deckenventilators. Das Surren wurde leiser, unregelmäßiger, stockte. Ungläubig starrte Ioana hoch zur Zimmerdecke. Kein Zweifel – der Ventilator stand still.
„Stromausfall“, stellte ihr Bruder fest, als er vergeblich mit der Fernbedienung hantierte.
„Auch das noch!“
Sie schlüpfte aus ihren Badelatschen und versuchte, ihre Füße in der lauwarmen Brühe des Plastik-Planschbeckens zu kühlen, das sie ins Zimmer geholt hatte, damit es auf den glühenden Steinen des Terrassenbodens nicht schmolz, so wie die Schwimmflügel sich aufgelöst hatten. Es gelang ihr nicht recht. Die Eiswürfel, die sie aus dem Gefrierfach genommen und in das Becken geworden hatte, waren längst geschmolzen.
Als sie die Füße wieder auf die Terracottafliesen setzte, zuckte sie zurück, verzog das Gesicht vor Schmerz und angelte nach den Badelatschen. Mihail versuchte sich derweil als Wassermaler, tropfte aus einer grünen Flasche Muster auf die Fliesen, sah zu, wie sie sich änderten, dünner wurden, verschwanden.
„Wir werden hier noch lebendig gebraten“, murmelte Ioana. Ihr Bruder brauchte ihr Gejammer nicht zu hören. Der war ohnehin geladen bis zum Gehtnichtmehr, und auf seine Explosion aus Schimpfwörtern konnte sie gut verzichten. Sie kuschelte sich im Liegestuhl zusammen und versuchte, die heißen Plastiklehnen nicht zu berühren. Aus ihren Sommersprossen schien Schweiß zu quellen wie aus einem porösen Schlauch.
Über die Terrasse hinweg beobachtete sie den Wald und betete, dass kein Tourist dort im Vorbeifahren eine Zigarette aus dem Fenster werfen möge. Durch den Wald führte die Europastraße, die in der warmen Jahreszeit viel befahren war. Touristen waren seltsame Leute. Nicht einmal die Quallenplage hielt sie davon ab, im Sommer her zu kommen. Bah! Fast wäre Ioana heute Vormittag auf eine Qualle getreten. Zu Hunderten lagen sie in den Sanddünen, seit die Lagune verdunstet war, und verbreiteten einen Höllengestank.
Besorgt prüfte sie wieder den Wald mit den Blicken.
„Da!“ Sie zeigte mit ausgestrecktem Arm in Richtung der Hügelkette. Qualm schlängelte sich ins Stahlblau, eine dünne, windzerzauste Rauchsäule stieg aus dem Wald auf. Dann schlugen Flammen aus dem Laub, leckten am wolkenlosen Himmel, breiteten sich aus, fraßen sich weiter ins Land, bildeten bald ein Höhenfeuer aus roten, gelben, orangen Zungen, sprühten Funken, die als Feuerregen vom Wind weitergetragen wurden.
„Da hat mal wieder einer eine Kippe zur Unzeit aus dem Fenster geworfen“, sagte Mihail, als plötzlich ein greller Blitz hinter den Geschwistern aufzuckte, gefolgt von einem Donner, der ihnen fast das Trommelfell zerriss. In kürzester Zeit wurde der Himmel schwarz, und die Wolken zerrissen, als hätte jemande eine Schleuse geöffnet. Ein Stausee stürzte auf die Hügel, auf das Haus, auf den brennenden Wald, zischte auf den Steinen der Terrasse, sammelte sich in den ausgedörrten Schlammrillen zu Sturzbächen, sprudelte meerwärts über tote Grasbüschel und rissige Holzzäune, löschte den Waldbrand, schwemmte die Quallen ins Meer zurück, füllte die Lagune, überschwemmte den Keller. Und hörte so abrupt auf, wie er begonnen hatte.
Ioana öffnete die Terrassentür. Frische strömte ins Haus, und am Horizont zauberte die Abendsonne die letzten Wolkenfetzen lila. Hinter Ioana surrte es – der Ventilator nahm seinen Dienst auf, der Fernseher sprang an, und Mihail hatte auf seinem Smartphone wieder eine Internetverbindung.
„Sie warnen vor Waldbränden und Gewittern“, teilte er Ioana mit. Und grinste.
(Mit Dank an „Christiane“ für die Anregung, aus den zehn Wörtern Badelatschen, Hitzefrei, Höhenfeuer, Liegestuhl, Qualle, Qualm, Schwimmflügel, Sommersprossen, Ventilator und Wassermaler einen Text zusammenzusetzen, in dem Regen eine Rolle spielt; diese Geschichte ist mein zweiter Versuch dazu.)