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Novemberschnee

Ihre Unbehaustheit hatte Codruta im Sommer nichts ausgemacht. Unbehaustheit – das Wort gefiel ihr besser als Obdachlosigkeit, und es passte auch besser auf ihre Situation, fand sie. Sie wohnte in Mihaelas Gästezimmer, das deren Mutter und Schwester vielleicht nie brauchen würden. Und im Winter hoffte sie, als Haushüterin unterzukommen, im Haus von Schuster-János, der mit seiner Frau, wie jeden Winter, in seiner Nürnberger Sozialwohnung leben würde. Das hatte im letzten Winter auch geklappt. Und im vorletzten.

Dann, Ende August, als es so heiß war, dass sie Mihaelas neue Klimaanlage zu schätzen wusste (Mihaela war wirklich reich!), hatte sie vom Verkauf des Schuster-Hauses erfahren. Die Schusters waren alt, 85 und 92, sagte der Kurator der Kirchengemeinde. Sie konnten nicht mehr herkommen, um sommers in ihrem Haus zu wohnen. Ein Ehepaar aus Bukarest habe 15.000 Euro dafür gezahlt, einen Spottpreis, meinte der Kurator.

Ein Vermögen. Codruta sagte es nicht. Kein Winterquartier mehr. Aber noch war Sommer. Kein Grund, schwermütig zu werden! Es gab viele Häuser, die leer standen, natürlich, wie in den meisten Dörfern, aus denen die ehemals hier ansässigen Familien ausgereist waren. Aber niemand benötigte eine Haushüterin. Auch nicht im Nachbardorf, das Codruta per Bus aufsuchte (ihre Arthritis machte ihr zu schaffen). Der Versuch, nach einer kostenlosen Winterbleibe zu haschen, war fehlgeschlagen.

Ende Oktober, die Sommerhitze war Nieselregen gewichen, erfuhr Codruta, dass Mihaelas Familie aus Berlin hierher ziehen würde, nicht nur für den Winter wie sonst. Eine Eigenbedarfskündigung. In Berlin gab es keine Wohnungen, die Mihaelas Mama von der Sozialhilfe bezahlen konnte. „Und ich habe auch nicht so viel Geld“, sagte Mihaela. Vielleicht war sie doch nicht wirklich reich.

Morgen nun – morgen würde Dezember sein – sollten Mihaelas Verwandte ankommen. Codruta wärmte ihren wehen Rücken am Kachelofen. Ab morgen war Unbehaustheit ein Synonym für Obdachlosigkeit.

Draußen ging der Nieselregen in Schneegestöber über.

(Aktuelle Kürzestgeschichte der abc-Etüden, die dritte: Die Schlüsselwörter für den obigen Text kommen von Bernd. Seine drei Begriffe lauten: Unbehaustheit, schwermütig, haschen. Sie waren wie immer in maximal 300 Wörtern zu verarbeiten. Danke, Bernd und Christiane, für den Anstoß!) 

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Firmennachfolge

„Der hat sich seine Pfründe gesichert“, murmelte Wolfgang, Justiziar und Testamentsvollstrecker der AS Messgeräte GmbH & Co. KG München. Er speicherte die Dateien, die er zuletzt heruntergeladen hatte, auf seinem Stick, fuhr das Betriebssystem des Firmenrechners hinunter und schaltete den Computer aus.
„Sagten Sie etwas, Herr Doktor Sauer?“, fragte die alte Dame, die als Sekretärin für Andreas Schullerus, den verstorbenen Firmenchef, gearbeitet hatte, und fingerte nach einer Zigarette.
„Lassen Sie die Zigarette in der Schachtel“, zischte Wolfgang sie an.
„Als Herr Schullerus noch lebte“ … 92 Jahre alt war er gewesen, der alte Fuchs, als er starb.
„Zigarette in die Schachtel“, wiederholte Wolfgang. „Und bringen Sie den Hund weg. In diesem Büro brauche ich keine Kuscheltiere.“
Die Frau fasste den Zwergpudel am strassbesetzten Halsband und steckte ihr Zigarettenetui in eine teuer aussehende Lederhandtasche, ehe sie ging.
„In fünf Minuten sind Sie wieder hier, Frau Petrescu. Allein.“ Wolfgang erhob sich ohne die elektrische Aufstehhilfe des mondänen Bürosessels, den Schullerus sich gegönnt hatte, und humpelte zum bodentiefen Fenster.
Verdammte Beinprothese!
Der Blick auf die Münchner City war von hier aus unschlagbar, aber die Häuser und Parks blieben heute in den gleichen Nebel gehüllt wie die Geschäftsprozesse der AS Messgeräte GmbH & Co. KG. Woher das Geld kam, das Schullerus einnahm, wohin er es fließen ließ, hatte der Justiziar eben entdeckt. Großlieferungen nach Libyen, Somalia, Sudan … Überweisungen in die Schweiz. Den Erben musste Wolfgang noch finden: einen gewissen Uwe Schneider.
Es gab Tausende davon. Es war sicher nicht der Uwe.
An der Wand gegenüber dem Schreibtisch, hinter einer verspiegelten Mahagonitür, befanden sich jede Menge teure Alkoholika. Wolfgang würde sie wegschütten lassen. Flüchtig nahm er das eigene Gesicht im Schrankspiegel wahr, die Brandnarben auf Wangen und Stirn, die dunkle Brille. Er fasste mit der linken Hand an den rechten – künstlichen – Ellbogen.
Verdammter Phantomschmerz!

(Zweite Geschichte nach den neuen Regeln für die abc-Etüden von Christiane: Nicht mehr 3 Wörter in 10 Sätzen sind zu einer Geschichte zu verbinden, die Drei-Impulswort-Geschichte muss jetzt maximal 300 Wörter lang sein. Außerdem sind die Impulswörter jetzt nicht mehr eine Woche lang gültig, sondern zwei Wochen lang. Sie lauten diesmal Pfründe, mondän und lassen und wurden gespendet von Bernd. Danke euch beiden für die Anregung!)

Nichts Genaues weiß man nicht

„Kernschmelze“ klang für Brigitte wie „Tschernobyl“, und das Wort Tschernobyl kannte sie erst seit 1986, als ihr Mann Andreas dort auf Geschäftsreise gewesen war, während sie, knapp 1000 Kilometer und doch nicht weit genug davon entfernt, von ihrer Frauenärztin erfuhr, dass sie schwanger war. Niemand erzählte ihr und den anderen werdenden Müttern (oder sonst irgendwem), dass sie ab sofort alles wegwerfen sollten, was grün war.

Niemand sagte ihnen auch nur, dass in Tschernobyl etwas passiert war – und schon gar nicht was. Sie lebten ihr normales Dorfleben im Tal des Homorod-Baches in der Nähe von Kronstadt, irgendwo in Siebenbürgen. Abends stand Brigitte wie die anderen vor ihrem runden Hoftor und wartete auf ihre Büffelkuh, die von der Weide kam. Die Hände, mit denen sie gerade noch im Garten gebuddelt hatte, wusch sie sich am eigenen Brunnen, ehe sie die Kuh molk, um mit ihrer Milch den Maisbrei – Palukes oder Mamaliguta genannt – zu strecken. Die Lauchzwiebeln hackte sie klein und verteilte sie als Gewürz auf dem gelben Brei.

Als Andreas von seiner Geschäftsreise nicht zurückkam, erzählte ihr der Dorfpolizist, dass ihr Mann einen Unfall gehabt habe. Als sie ihr Kind verlor, sagte die Frauenärztin im benachbarten Städtchen Reps, das komme in den ersten drei Monaten oft vor. Erst lange nach der Aussiedlung nach Deutschland, jetzt, im Jahr 2018, hielt ihr Münchner Onkologie, der ihr ruhig und emotionsfrei die Krebsdiagnose erläuterte, es für möglich, dass die Erkrankung eine Spätfolge des Reaktorunfalls war, aber genau sagen konnte er es auch nicht.


(Für die Textwoche 29.18 hat Viola die drei Wörter Kernschmelze, grün und wegwerfen gespendet, die wie immer auf Einladung von Christiane in maximal 10 Sätze zu packen waren.)

Dörfliche Idylle

Die Schräge des Krüppelwalmdaches war unter dessen Krümmung kaum mehr wahrnehmbar. Eingedrückt wie ein benutzter Karton duckte es sich in die verdorrten Wildpflanzen, die einmal ein Garten gewesen sein mochten. Oder auch nicht – keine Pflanzenart deutete darauf hin, dass irgendwer sie irgendwann bewusst kultiviert hätte, und jetzt, nach den Dürresommern, die sich in den letzten Jahren gehäuft hatten, ohne von Frühjahrsregen eingeleitet oder von Herbstfeuchte abgelöst zu werden, jetzt gab es außer ein paar Disteln praktisch gar nichts mehr in der rissigen Erde.

Brennend stachen die Sonnenstrahlen in das Glas der zerbrochenen Fensterscheiben, das in tausend Splittern vor der bröckelnden Fassade lag, ohne irgendwen zu interessieren. Ab und zu hatten noch Nicu und Aurica hier gespielt, früher, weil sich die Disteln so schön köpfen ließen, aber jetzt waren die Disteln vertrocknet, kopflos und ohne jeden Restnutzen.

Nicu, der vierte Sohn der Nachbarin zur Linken, die seit Jahren am Friedhof ruhte, hatte in der benachbarten Kleinstadt als Gelegenheitsarbeiter einen Job gefunden, lebte seit ein paar Monaten mit Zamora zusammen und konnte mit ihrer Hilfe tatsächlich meistens die Miete für die Zweizimmerwohnung im Souterrain des Hochhauses bezahlen, weil sie abends, wenn ihre drei Kinder schliefen, Bürogebäude putzte.

Aurica, die letzte überlebende Enkelin des Nachbars zur Rechten, der ebenfalls schon längst das Zeitliche gesegnet hatte, vegetierte irgendwo in einer Großstadt in Westeuropa und vermietete ihren Körper an interessierte Freier. Sie tat es nicht gern, aber wusste nicht, wie sie sonst hätte überleben sollen, zumal der Schlepper, der ihr eine Stelle aus Haushalts- und Familienhilfe versprochen hatte, ihr den Pass gestohlen hatte und sich weigerte, ihn herauszugeben. Schließlich hatte sie ihren kleinen Sohn zu versorgen, dessen Erzeuger ein Freund des Schleppers war, der Aurica gleich nach ihrer Ankunft vergewaltigt hatte.

Das Leben war nicht einfach, nicht nur in dem Dorf, in dem die beiden Nachbarskinder aufgewachsen waren, und in dem jetzt drei Häuser nebeneinander verfielen, von allen anderen in der Hausreihe ganz abgesehen.

(Die drei zu verarbeitenden Wörter „Schräge, brennend, köpfen“ hat diesmal Gerda für die Zehn-Satz-abc-Etüden gespendet, zu denen wie immer Christiane eingeladen  hat.)

Bulimische Begriffe

Es gab Wörter, die Mariella nur lesen konnte, wenn sie zu viel gegessen hatte, um ihr Fliegengewicht zu halten, und sich übergeben wollte, ohne sich den Finger in den Hals stecken zu müssen. Ihrer Erfahrung nach funktionierte der Trick immer.

Zu diesen Wörtern zählten „Herz“, „Lust“, gern auch in der Kombination „Herzenslust“, aber auch „Herzschmerz“, „Herzeleid“ und ähnlich schwülstiger Blödsinn. Dazu kamen Begriffe wie „brav“, „fromm“, „lammfromm“, „züchtig“, „gehorsam“, „sittsam“, „sittenstreng“, „sittlich“, „unschuldig“, „keusch“, „unberührt“, „mädchenhaft“, unterlegt mit einem Unterton sexueller Enthaltsamkeit und ebensolcher Unterwerfung des Weiblichen unter das Männliche.

Ah, Mariella hasste das! Sie hasste es, wenn sie „Prinzesschen“ genannt wurde, wenn männliche Wesen ihre „Zartheit“ lobten, sie für „zerbrechlich“ hielten und ihr nicht zutrauten, von der Haustür bis zur Bushaltestelle selbst auf sich aufzupassen. Ebenso wenig mochte sie Ausdrücke wie „brüderlich“, „Vaterland“, aber auch „Muttersprache“. Warum konnte es nicht „geschwisterlich“ heißen, „Wohnstaat“ und „Hauptsprache“, wenn es denn überhaupt sein musste, einen Staat und eine Sprache vor anderen hervorzuheben?

Nie würde sie sich mit diesen diskriminierenden Ausdrücken „versöhnen“ können, und warum auch? Sie war eine Tochter ihrer Zeit, mehrsprachig aufgewachsen in mehreren Staaten, und das wollte sie auch bleiben, und sie konnte gut darauf verzichten, zum Sohn eines einzigen Landes zu werden, das ihre Hauptsprache fälschlicherweise ihrer Mutter zuschrieb!

(„Herzenslust, brav, versöhnen“ spendete diesmal die von mir sehr geschätzte Gerda Kazakou, Malerin und Schreiberin, für die abc-Etüden, zu denen Christiane eingeladen hat. Drei Wörter, aus denen wie immer in zehn Sätzen eine Geschichte zu basteln war. Lieben Dank an beide!)

Hochzeitsflug

Zeitig aufgestanden war Florina auch heute, genauso zeitig wie immer, obwohl sie niemals wieder die Kühe würde hüten müssen.

Es war eigenartig, sich das vorzustellen: Nie wieder von Haus zu Haus gehen, dem Vieh – neben Kühen waren es auch Büffel und Ziegen – zusehen, wie es aus den rundbogigen Toren neben den walmbedachten Häuschen schritt, nie wieder die Gerte schwingen, um die Tiere zur Mitte der Dorfstraße zu lenken, nie wieder das dumpfe Muhen, das helle Meckern und das vereinzelte Glockengebimmel hören, nie wieder der sengenden Sonne, dem gelegentlichen Platzregen, den oft heftigen Gewittern, dem Grau-in-Grau des Landregens, dem Zerren des Sturms ausgesetzt sein, nie wieder die Herde heimbegleiten und in der Abenddämmerung darauf hoffen, dass kein versprengtes Auto mit überhöhter Geschwindigkeit in die Tiere hineinraste, nie wieder den Sommer riechen und dem Zirpen der Grillen lauschen, nie wieder in der winzigen Hütte frieren, trotz der vielen Menschen, die sich den Raum zum Schlafen teilten, nie wieder Angst haben, dass der Wind das Dach mit sich davontrug.

Florina knöpfte sich den letzten Knopf der neuen Bluse zu, die zu Sebastians Geschenken gehörte wie die Jeans, die sie statt des bunten, weiten Rockes heute trug, wie der teure Ring, der an ihrer rechten Hand blitzte, wie das kostbare Badesalz und das Shampoo und der Blazer, der sie vor der Morgenkälte dieses Septembertages schützte. Das Hotelzimmer, das sie nur mit Sebastian teilte, war größer als das ganze Haus, in dem sie ihr bisheriges Leben verbracht hatte, und roch ganz leicht nach Seife oder Waschmittel oder Parfüm. Oder einfach nach Reichtum. Florina wusste es nicht.

Sie wusste nur, dass sie nun verheiratet war, seit gestern, mit diesem fremden Mann, der Sebastian hieß, verheiratet, weil Sebastian sich in ihr schwarzes, struwweliges Haar und ihre Kohleaugen verliebt zu haben meinte, trotz der Kühe, Büffel und Ziegen, trotz der schmutzigen Hütte mit ihrem Geruch nach gekochtem Kohl und rohem Knoblauch, nach Schweiß und ungewaschener Wäsche, verheiratet mit einem Mann, den sie nicht kannte und von dem sie nicht wusste, ob sie ihn je würde lieben können, mit einem Mann, der wusste, dass sie das nicht wusste, und der sie trotzdem zur Ehefrau wollte, warum auch immer.

Ihr Brautkleid, einen Traum in Weiß, hatte sie ihrer Schwester Marioara schenken dürfen, Sebastian hatte es ihr erlaubt, weil Marioara so gebettelt hatte, und Sebastian hatte Marioara sogar versprochen, die Kosten für ihre Hochzeitsfeier mit Ionel zu übernehmen, und die Kosten für die Tauffeierlichkeiten ihrer drei Kinder gleich mit.

Florina lächelte, als sie an die ungläubig-glücklichen Gesichter ihrer Verwandten dachte, und packte ihre Sachen, nur die neuen natürlich, die Sebastian ihr gekauft hatte, aus dem Hotelschrank in ihr Handgepäck, betrachtete ihre sorgfältig manikürten Hände, spürte Sebastians Kuss in ihrem Nacken und ging entschlossen mit ihm zum Taxi, das sie zum Flughafen bringen sollte, für ihren Flug in ein neues Land und ein neues Leben, vor dem sie sich trotz allem ein wenig fürchtete.

(„Knopf, zeitig, hüten“ spendete diesmal Frau M.Mama für die abc-Etüden, zu denen Christiane eingeladen hat. Drei Wörter, aus denen wie immer in zehn Sätzen eine Geschichte zu basteln war. Lieben Dank an beide!)

 

Schicksalsstadt

Oh, wie Elly den rheinischen Dialekt hasste, diesen widerlichen Singsang, die „Pänz“ und die „Veedel“ und den „Zoch“ und das „Piddeln“ und – iiiih! Sie hatte fast einen Ohnmachtsanfall bekommen, als Markus ihr von dem Job berichtete, dem tollen Job, dem Job seines Lebens, den er in Köln – ausgerechnet Bananenkuchen – angenommen hatte. Wieder einmal würde sie also ins Rheinland ziehen müssen, eine Gegend, die sie einfach nur mit Niederlagen verband, eine Region, in die sie immer genau dann gezwungen wurde, wenn sie sich anderswo gerade ein gemütliches Sein gebaut und eben erst begonnen hatte, die Früchte ihrer mühsamen Aufbauarbeit zu genießen.

So wie damals in Hamburg, als sie ihren kleinen Sohn bei ihrer Schwester in Tagespflege untergebracht hatte, um weiter ihrer Arbeit als Bauingenieurin nachgehen zu können, damals, als sie in die Nähe ihrer Eltern gezogen war, damit ihr kürzlich verwitweter Vater ihre Schwester bei der Tagespflege unterstützen und gleichzeitig eine neue Aufgabe für sich selbst finden konnte. Alles schien perfekt, bis ihre Chefin ihr mitteilte, dass der Firmensitz nach Köln verlegt worden war, und sie vor die Wahl stellte, mitzuziehen oder arbeitslos zu werden, was keine Wahl darstellte, weil sie Johannes allein erzog und schließlich von etwas leben musste.

Oder damals, als in Rosenheim ihr Ingenieurbüro gerade aus den Miesen kam und das kleine Häuschen seit wenigen Monaten fertig war, das sie für sich und ihren Sohn erworben hatte und ihre beiden Hauptkunden absprangen, weil der eine davon seine Tätigkeit nach Düsseldorf und der andere nach Bonn verlagerte. Beide waren an ihren Diensten weiterhin interessiert, wollten sie aber mehr in ihrer Nähe haben, und so vermietete sie das Häuschen in Rosenheim, zog selbst zähneknirschend mit ihrem Jungen in eine Mietwohnung in Brühl bei Köln, meldete ihn in einer Privatschule an, damit er diesen hässlichen Dialekt nicht lernen musste und erlebte hilflos, dass er ihn auf der Straße trotzdem anwandte.

Und jetzt, nachdem Johannes aus dem Haus war (er hatte in Bonn eine Frau gefunden und sie vor sechs Jahren in Köln geheiratet) und sie in Leipzig so gut Fuß gefasst hatte, jetzt, nachdem sie sich mit Markus, ihrem neuen Partner, in der Loftwohnung an der Weißen Elster genüsslich auf ihren Lebensabend vorbereitete, jetzt kam dieses Angebot aus Köln. Sie fühlte sich angeschwindelt, angekohlt vom Leben, irgendwie auch von Markus und sogar von Johannes, der doch wirklich nichts dafür konnte.

Aber obwohl sie sich selbst dafür verachtete, würde sie auch diesmal mit umziehen, weil sie Markus liebte und weil er nach diesem Job nicht nur gesucht hatte, um sich selbst einen Lebenstraum zu erfüllen, sondern vor allem, um ihr die Möglichkeit zu geben, ihre zwei Enkelkinder aus nächster Nähe aufwachsen zu sehen, was sie sich wünschte, seit der älteste Junge vor fünf Jahren zur Welt gekommen war, und vielleicht, hoffte sie, war Köln ja doch nicht so schrecklich, wie sie es in Erinnerung hatte.

(Mit einem Dankeschön an Christiane und Bernd für ihre Schreibeinladung und Wortspende zu dieser abc-Etüde in 10 Sätzen mit den Wörtern „Ohnmachtsanfall, angekohlt, piddeln“.)

 

Eine Provokation zu viel

„Mit ‚knallvergnügt‘ meinst du ’stinkbesoffen‘.“ Simone sagte es ganz ruhig, nicht vorwurfsvoll, auch nicht traurig, und drehte sich nicht einmal zu Jean-Marc um, während sie die Tulpen in der viel zu schweren Kristallvase arrangierte. Jean-Marc hasste Simone für diese Ruhe, diese Gleichgültigkeit, er hasste auch die verdammten Tulpen und Simones widerliche Kristallvase, die sie aus ihrem Geburtsland mitgebracht hatte, damals, vor zehn oder zwölf Jahren, als sie mit ihren Eltern und Geschwistern ausgewandert war, lange nach dem EU-Beitritt dieses ihres Herkunftslandes. Er merkte sich nie, welches Land das war – Bulgarien, Rumänien, Ungarn oder sonst einer dieser unzivilisierten Staaten im östlichen Europa, die er nie im Leben freiwillig besuchen würde.

„Auf deine Scheißkommentare kann ich verzichten“, lallte er in die Rippen seines Unterhemdes, während er es sich über den Kopf zog, ohne die Bierflasche aus der Hand zu legen.

Er wusste nicht, ob Simone seine Antwort gehört hatte, und es war ihm auch egal, die ganze Simone war ihm egal, ihre knallsaubere und knallaufgeräumte Wohnung, ihre knallnüchternen Freundinnen und Verwandten, die samt und sonders schon beim Rauch einer einzigen Zigarette die Nasen rümpften und pikiert schwiegen, wenn Jean-Marc versuchte, mit Simones Vater oder Bruder oder Vetter über wirklich spannende Themen wie Fußball oder Autos zu diskutieren, schnelle Autos, am liebsten knallrote, mit unendlich vielen PS unter der Haube und offenem Verdeck. Simones männliche Verwandte waren so langweilig wie sie, rauchten nie, tranken nicht, bevorzugten Marathonlauf und fuhren mit der Straßenbahn.

Hatte ihn damals ihr Blondhaar gereizt, das sie inzwischen schwarz hatte nachwachsen lassen, oder ihr Busen, der mittlerweile schlaff in Richtung Magen hing, hatte er sie nur beschützen wollen, weil sie so klein und zierlich aussah, wollte er vor allem vor den Kumpels mit ihr angeben, oder was, verdammich, hatte er sich dabei gedacht, als er mit ihr angebändelt hatte?

„Ich komme jedenfalls nicht mit zu deiner Fußballerfeier“, sagte sie so freundlich-neutral, dass er sie hätte schlagen mögen, was er noch nie getan hatte und niemals tun würde, nicht einmal in volltrunkenem Zustand, „du weißt genau, dass ich zum Fünfjahres-Jubiläum meiner Spezialmaschinenhandlung für heute die halbe Stadt eingeladen habe, seit Wochen reden wir davon, auch wenn ich nicht erwarte, dass du mich begleitest.“

Das war, fand Jean-Marc, eine Provokation zu viel von diesem eingebildeten Weib, und so kramte er mit unsicheren Wurstfingern (nicht jeder konnte schließlich das Zeug zu einem Pianisten haben wie Simones Vater) ihren Wohnungsschlüssel aus der Tasche seiner verbeulten Trainingshose, schmiss ihr ihn vor die Füße und verließ sie grußlos, nicht ohne die Wohnungstür so schwungvoll zukrachen zu lassen, wie sein schwankender Körper es zuließ.

(Mit Dank an Christiane und Anna-Lena, von der als Schreibanreiz diesmal die drei Wörter „Unterhemd“, „knallvergnügt“ und „verzichten“ gespendet wurden, die wie immer in zehn Sätzen zu verarbeiten waren.)

 

 

Löwenzahnblüten

So ein Umzug konnte alles verdrehen und verderben, das hatte Natalie in ihrem Leben schon fünfmal erfahren müssen, alle zwei Jahre einmal, immer, wenn die Bundeswehr ihre Mama wieder anderswohin versetzte; zwei Jahre – das war der Normalfall beim Generalstab. Nicht einmal die Sprache stimmte dann mehr, und das nicht nur, wenn der Umzug mal wieder ins Ausland führte, nach Amsterdam, nach Paris oder  Washington, das galt auch für Stuttgart oder Köln.

Pissnelken sagten sie hier im Rheinischen zu den Milchlingen, die sie von Stuttgart her kannte, es schüttelte Natalie, wenn sie es hörte. Pissebloem, sagten sie in Amsterdam, und auch das fand das Mädchen abstoßend. In Paris waren es die Pissenlits gewesen, manger les pissenlits par la racine,  die Veilchen von unten riechen, auf der anderen Seite des Seins.

Natalie spürte wieder, wie das Weinen in ihr hochkroch, aus dem Brustkorb in den Hals, in den Hinterkopf, in die Ohren, hinter die Stirn, bis es vor den Augen haltmachte, die Tränen stauend wie einen Wasserfall an einem Wehr, manger les pissenlits par la racine, wie der Papa es seit zweieinhalb Jahren tat, der Papa, der immer mitgekommen war, von Ort zu Ort, der seine Musik von überallher hatte komponieren können, der jeden Tag eine andere Melodie auf den Lippen führte, der Natalie über alles Unverständliche und Fremdartige hinwegtröstete, der den Kuchen mit Pudding mischte, wenn er Mama zu krümelig geriet, der jedes Mittagessen essbar machte, das Natalie und Mama versalzten oder verkochten, der Papa, der jetzt in Paris in einem Urnengrab wohnte, per manger les pissenlits par la racine, wie Madame Bertrand und Monsieur Lefebvre es abfällig nannten, weil sie nicht wussten, dass Natalie zuhörte und sie verstand, und weil sie Papa und sein Trompetenspiel nie hatten leiden können.

Pissnelken – wie konnte man die sonnengelben Milchlinge so nennen? Für Natalie kündigten sie den Frühling an, zackten mit ihren dunkelgrünen Blättern freche Inselchen aus dem langweiligen Rasen, trugen als Pusteblumen auf ihren weißen Fallschirmchen die Beschwingtheit der erwachenden Natur in himmelblaue Tage.

„Was stehst du hier im Weg herum, du Pissnelke, du ausländische“, bellte hinter ihr eine heisere Stimme, „verzieh dich, oder ich brat dir eine über!“

Natalie versuchte, den Strauß Löwenzahnblüten in ihrer rechten Hand mit der linken zu schützen, aber der Junge, der sie verfolgte, scherte sich nicht darum und schlug ihr die Blumen aus der Hand, sodass sie auf den staubigen Asphalt fielen, wo er mit seinen schweren Stiefeln darauf herumtrampelte, bis sie aussahen wie ein Häufchen gelbgrüner Matsch.

 

(Mit einem Dankeschön an Christiane für ihre Einladung zu den abc-Etüden, diesmal die mit den Wörtern „Pissnelke“, „krümelig“, „verdrehen“, die wie immer in maximal 10 Sätzen unterzubringen waren. Sie stammen diesmal übrigens von Bettina.)

Verhohnepiepelt

Bei ihrer Düsseldorf-Oma fühlte sich Sitora immer pudelwohl, denn hier gab es nicht nur einen Riesenspielplatz und Kekse bis zum Abwinken, alle mit rosa Zuckerguss, sondern auch jede Menge lustige Bilderbücher aus Mamas Kindergartenzeit, und dazu war die Düsseldorf-Oma schlau und geduldig und beantwortete Sitora fast alle Fragen, und Sitora hatte viele Fragen, denn im Kindergarten gab es so viele neue Dinge, die sie nicht durchschaute und so viele neue Wörter, die sie noch nie gehört hatte, Tyrannosaurus und Wasserpause und Versperzeit und …

„Oma, was ist eine Wanderdünne? Yusup sagt, es ist das Gegenteil von Laufdicke, aber Yusup ist immer so gemein und sagt Quatsch, und wenn ich dann im Kindergarten etwas davon erzähle, lachen mich Emilia und Jean-Luca aus, und die Erzieherin guckt mich an mit bösem Gesicht. Und außerdem – was ist eigentlich eine Laufdicke?“ Sitora wusste, dass ihre Düsseldorf-Oma, Mamas Mama, eine echte Deutsche war, in Deutschland geboren, nicht so wie die Kurgantobe-Oma und der Kurgantobe-Opa, Papas Eltern, die ganz weit weg in Tadschikistan wohnten, also würde die Düsseldorf-Oma auch Wörter wie Wanderdünne und Laufdicke kennen.

Früher, vor dem Hyperknall bei der Explosion der Lagerhalle für Feuerwerkskörper in Duschanbe, in der Sitoras und Yusups Mama für ihren Spaßladen einkaufen wollte, hätte auch sie solche Wörter erklären können, denn da konnte Mama ja noch hören und sprechen, aber an diese Zeit erinnerte sich Sitora nicht mehr, nur Yusup und Papa und die Düsseldorf-Oma erzählten manchmal davon.

„Laufdicke kenne ich nicht“, sagte die Düsseldorf-Oma, „höchstens Laufmaschendicke, aber doch eher Laufmaschenbreite, das ist, wenn du eine Laufmasche in der Strumpfhose hast, und es zeigt an, wie viele Maschen kaputt sind, aber das ist nicht das Gegenteil von Wanderdüne, weil eine Wanderdüne nichts mit dünn zu tun hat. Die ist nämlich aus Sand, und sie ist ein Berg, und wenn der Wind von der einen Seite den Sand wegbläst und ihn auf der anderen wieder niederschneit, dann kriecht der Berg ganz langsam weiter, kriech, kriech, weißt du? Das kannst du mal im Sandkasten ausprobieren, wenn du magst, ich helfe dir dabei, nimm am besten gleich die Sandelsachen, und wir gehen los.“

„Au ja“, rief Sitora, zog freiwillig Gummistiefelchen und Draußenhose an und schnappte sich Eimerchen, Förmchen und Schaufel, „ich WUSSTE doch, dass Yusup mich nur verhohnepiepelt,“ und sie fragte sich verwundert, warum die Düsseldorf-Oma plötzlich so lachen musste – stimmte vielleicht etwas nicht mit dem Verhohnepiepeln, das doch der große Jean-Luca immer zu ihrem Bruder Yusup sagte?!

(Mit einem Dankeschön an Christiane für ihre Einladung zu den abc-Etüden, diesmal die Nummer 2 mit den Wörtern „Hyperknall“, „Wanderdüne“, „pudelwohl“, die wie immer in maximal 10 Sätzen unterzubringen waren.)