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Kekstorte für Eine

65 Jahre.

Codruţa betrachtete die Hände auf der Tastatur ihres Laptops. Die Sonne hatte die oberen Hautteile gebräunt, und wenn sie die Fäuste ballte und die Haut dadurch straffte, liefen hellere Querstreifen über den Handballen. Waren die Pigmentpunkte in diesem Sommer zahlreicher geworden? Trotz der Lichtschutzcreme, die Codruţa auf Empfehlung ihrer Hausärztin skrupulös genutzt hatte?

Wann war Codruţa 60 geworden?

An einem Tag, der genauso verlaufen war wie alle anderen Tage. Ein Tag ohne Feier. Ohne Freunde und Freundinnen, ohne Verwandte und Bekannte, ein Tag, der sich aus Morgen, Mittag und Abend zusammensetzte und in der Nacht zerrann. Herbert-Mama war tot, die Todesanzeige kam einen Tag vor dem Geburtstag an, der Kontakt zur Pflegefamilie, den Herbert-Geschwistern und ihren Angehörigen, war seit ewig abgerissen. Deutschland war weit weg.

Vor fünf Jahren war das gewesen, Codruţas 60. Geburtstag. Heute vor fünf Jahren.

Warum hätte sie den 65. Geburtstag feiern sollen, wenn der 60., immerhin ein runder, niemandem etwas bedeutet hatte, nicht einmal ihr selbst?

Warum hatte sie sich heute eine Kekstorte zubereitet, aus gewässerten Butterkeksen und Nougatcreme, nicht wie damals, als Mămică noch lebte, aus rumgetränkten Bruchkeksen und mühsam gekochter Kakaocreme? Niemand außer ihr selbst würde in den Genuss der Torte kommen.

Ob Tăticu noch irgendwo lebte? Sie hatte keinen Kontakt zu ihm, seit er Tanti Rodica geheiratet hatte. Seit 60 Jahren.

Wenn es Bernd noch gäbe, den Jungen, der sie vor 50 Jahren geküsst hatte … Wenn Uwe da wäre, ihr Mann, der vor 43 Jahren nach Deutschland gefahren war, mit ihrem gemeinsamen Baby Marcela, ohne je zurückzukommen … Dann wäre sie für irgendwen noch Codruţa statt Frau Schneider. Und vielleicht „Oma“ für Marcelas Kinder.

Vorbei.

Codruţa seufzte, strich sich eine eisgraue Haarsträhne nach hinten, klappte den Laptop zu und holte ein Messer, um die Kekstorte in schiefe Scheiben zu schneiden.

(Es gibt neue Regeln für die abc-Etüden von Christiane: Nicht mehr 3 Wörter in 10 Sätzen sind zu einer Geschichte zu verbinden, die Drei-Impulswort-Geschichte muss jetzt maximal 300 Wörter lang sein. Außerdem sind die Impulswörter jetzt nicht mehr eine Woche lang gültig, sondern zwei Wochen lang. Sie lauten diesmal Genuss, skrupulös und schneiden und wurden gespendet von Gerda Kazakou. Danke euch beiden für die Anregung!)

 

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Brief an eine Romanfigur

Sehr geehrte Frau Schneider, liebe Cristina,

Sie sind die Hauptperson in dem Roman, den ich gern schreiben würde, wenn ich mehr über Sie und Ihr Schicksal wüsste. Wir kennen uns nun schon so lange, 60 Jahre sind es inzwischen, glaube ich, aber irgendwie kann ich Sie nicht richtig einschätzen. Ganz abgesehen davon, dass ich nach wie vor per Sie mit Ihnen bin. Das war früher anders, nicht wahr? Damals, als Sie und ich noch zur Schule gingen? Wir haben sogar zeitgleich dieselbe Schule besucht, auch wenn Ihnen das nicht bewusst sein mag. Sie waren  eine Klasse unter mir, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht. Wir haben uns sicher bei Schulschlussfeiern gesehen, und vielleicht würden wir gegenseitig unsere Gesichter erkennen, wenn wir sie auf einem alten Foto fänden. Vielleicht auch nicht. Ich erkenne viele Gesichter nicht mehr, wissen Sie? Geht es Ihnen auch so?

Aber da wir Schulkolleginnen sind und so gut wie gleichaltrig, könnten wir eigentlich „du“ zueinander sagen, finden Sie nicht? Ich bin ein Jahr älter als Sie. Also darf ich Ihnen laut Knigge (der zählte noch was, als Sie und ich junge Mädchen waren) das Du anbieten. Ich hoffe, Sie finden das nicht zu distanzlos? Wenn Sie sich nicht wehren, setze ich voraus, dass Sie einverstanden sind.

Also – ich bin die Elke. Und ich sage ab sofort Cristina zu dir, so lautet schließlich dein bürgerlicher Vorname. Alles andere, Cristl, Codruţa, keine Ahnung was noch, sind Spitznamen oder Kurznamen oder Kosenamen, du darfst dir aussuchen, was dir lieber ist. Wer genau hat dich immer Codruţa genannt? Deine Mama, zu der du Mămica sagtest? Dein Papa (bei uns hieß das Tata), der für dich der Tăticu war? Und dein Mann Uwe? Oder auch deine Schwiegermutter und dein Schwiegervater?

In der Schule warst du die Cristl. Ich habe es mir immer mit „h“ vorgestellt, „Christl“ also, oder „Christel“, aber dann kamen die Sommerferien, in denen ich von der Feldarbeit freigestellt war und die Klassenkataloge bearbeiten musste, während die anderen Schülerinnen und Schüler unserer Schule Kartoffeln ernteten. Und da sah ich, dass du gar nicht Herbert hießt, wie ich gedacht hatte, sondern Munteanu, und gar nicht Christine, sondern Cristina. Du wohntest halt bei den Herberts, den Herbertischen, wie wir sagten, deshalb dachte ich … und im Katalog war tatsächlich ein Bleistiftvermerk neben „Munteanu Cristina“, auf dem „Herbert Christel“ stand. Damit die Klassenlehrerin wusste, wer du warst.

Dein Mann, der Schneider Uwe, war in meiner Klasse, aber nicht in meiner Clique. Ich wusste trotzdem, dass du mit ihm zusammenwarst, und es war ein ziemlicher Skandal, als ihr so kurz nach deinem Abitur – Matura hieß das bei uns, oder Bakkalaureat – geheiratet habt. Denn es wurde bald klar, was der Grund dafür war, als du nur vier Monate später eine Tochter zur Welt brachtest. Marcela, nicht wahr? Ich weiß nicht, ob ich sie je gesehen habe, denn ich bin gleichzeitig mit den Herbertischen nach Deutschland ausgewandert, und du bliebst in Siebenbürgen zurück, zogst mit Uwe auf irgendein Dorf, Mehrburg, irgendwo Harbach-abwärts an der Strecke der Schmalspurbahn zwischen Agnetheln und Hermannstadt. Uwe nannte dich nie Cristl, daran erinnere ich mich noch. Deine Geschwister – hießen sie nicht Gerlinde und Edi? – sagten Cristl zu dir, aber Uwe nie.

Obwohl, das waren doch gar nicht deine Geschwister, die Herbert-Kinder. Du kamst aus Kleinkopisch, glaube ich. Oder aus Bukarest? Jedenfalls waren deine richtigen Eltern tot, zumindest die Mămica. Das hat mir Uwe einmal erzählt. Der Tăticu lebte noch, in Bukarest, verheiratet mit einer anderen Frau, die für dich Tanti … Rodica? ja, Rodica! hieß. Sie hatten deinen kleinen Hund nach Bukarest mitgenommen, als deine Mama starb, aber dich nicht. Ich kann mich daran erinnern, dass Uwe fast weinte, als er mir das erzählte.

Danach habe ich dich aus den Augen verloren. Wie ist es dir denn ergangen? Was machst du beruflich? Was ist aus deiner Tochter geworden? Was macht Uwe und wie geht es ihm? Ich habe viel später auch eine Tochter geboren, sie ist zehn Jahre jünger als deine und hat jetzt selbst Kinder. Mein Mann lebt nicht mehr, leider. Ich habe lange als Journalistin gearbeitet und bastle derzeit an einer neuen Geschäftsidee (wenn klar ist, worum genau es sich handelt, erzähle ich dir gern mehr darüber). Vielleicht hast du auch Enkelkinder?

Ich würde mich freuen, mehr von dir zu lesen, weil ich dich gern besser kennenlernen möchte – du weißt schon. Für meinen Roman. Den kann ich nämlich nicht weiterschreiben, wenn ich nicht weiß, was aus dir geworden ist.

Hoffentlich bis bald!

Mit lieben Grüßen

Elke

(Der Roman mit Codruţa Schneider als Hauptfigur „hängt“ tatsächlich, weil C. Schneider geb. Munteanu derzeit nicht mit mir kommuniziert. Sie geht nicht ans Telefon, antwortet nicht auf Mails … vielleicht bevorzugt sie die Gelbe Post, deshalb schicke ich ihr diesen Brief als Papiervariante. Falls sie antworten sollte, werde ich es hier offenlegen. Und ich hoffe, sie schreibt etwas, das meinem Plot zu mehr Spannung verhilft. ☺)