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Sabotage
„Ich hab mal einen Flugkapitän gekannt“, sagte Franziska und ließ ihr Strickzeug sinken. Eine Masche löste sich von der Nadel, dann noch eine und noch eine, aber sie schien es nicht zu bemerken. Regenschnüre rannen die Fenster des Kaffeehauses hinunter und lösten sich zu Tropfen auf, die einander mal schräg, mal krumm nach unten verfolgten, bis sie irgendwo, meist lange vor dem Ziel, ihre Absicht vergaßen und stehenblieben, ehe sie sich mit anderen Tropfen zusammentaten und sich erst schwerfällig und dann schneller wieder in Bewegung setzten.
„Einen Lug-Agenten?“ Johannes nestelte an seinem Hörgerät und klopfte mit dem Kopf seiner Pfeife so unkoordiniert wie unbeabsichtigt auf den Kaffeehaustisch. „Entschuldige“, murmelte er erklärend dazu, „Parkinson.“ Die Pfeife roch nach kalter Asche. Seit Jahren hatte niemand mehr daraus geraucht.
„Einen Flug-ka-pi-tän“, wiederholte Franziska, so laut es ihre Stimme hergab, und strich sich eine weiße Haarsträhne von der Wange. „Der hat gesagt, Fliegen ist im Prinzip wie Busfahren, nur schneller und höher.“
„Ich fahre gern Bus“, sagte Johannes und versuchte, die Pfeife aufzuheben, die ihm aus den Händen gerutscht war. Es gelang ihm nicht. Franziska nahm einen Schluck von dem koffeinfreien Kaffee, den die Pflegerin ihr eingegossen hatte.
„Was wollte ich denn … ach ja, Georg, so hieß der Flugkapitän. Wir haben uns bei der Diakonie getroffen, im Altkleiderladen. Da war er schon seit Jahren in Pension. Einmal in der Woche hat er dort ausgeholfen, im Laden.“
„Als Flugkapitän?“ Roselies nestelte ein Papiertaschentuch aus dem Seitenfach ihres Rollstuhls und tupfte sich damit den Speichel aus dem Mundwinkel. Seit ihrem Schlaganfall konnte sie den Speichelfluss nicht mehr kontrollieren.
„Hörst du nicht zu? Das war er damals schon lange nicht mehr.“ Franziska versuchte vergeblich, ihren Rücken geradezubiegen. „Ich war dort Praktikantin, hatte eben die letzte Klasse abgeschlossen.“
Wer war die fremde Alte im gegenüberliegenden Kaffeehausspiegel? Der Spiegel war halb blind, und das war gut, denn er zeigte Franziska ohnehin nicht die junge Frau mit blondem Haarkranz, klaren Augen und glatter, sommerbrauner Haut, die er hätte zeigen sollen.
„Sabotage ist das“, sagte sie und bemühte sich vergebens, die Maschen ihrer Strickarbeit wieder aufzunehmen.
„Was? Die Laufmaschen?“ Roselies lehnte sich in ihrem Rollstuhl zurück und schloss die Augen. „Sabotage“ war Franziskas Lieblingswort.
„Das ganze Leben ist Sabotage. Irgendwer ist immer da, der einer Steine in den Weg legt, Sand ins Getriebe streut oder die Suppe versalzt.“
„Damals im Krieg …“, begann Johannes. „Wir haben dafür sorgen müssen, dass kein Flugzeug den Flughafen verlassen konnte. Ich habe die Motoren ausgebaut, manipuliert und wieder eingebaut, mein Kumpel Jonathan hat Schmiere gestanden und meine Mutter hat uns heimlich Stullen mit selbst gemachter Bratwurst in den Hangar geschleppt …“
„Sag ich ja. Sabotage.“ Franziska schnitt dem blinden Kaffeehausspiegel eine Grimasse, eine pubertäre Gesichtsverrenkung, eingebettet in blassgraue, zerklüftete Haut.
„Pflichterfüllung“, widersprach Johannes. „Es war ein Befehl der Partei!“
„So etwas Ähnliches hat meinen Flugkapitän fast das Leben gekostet“, erzählte Franziska den Blümchen auf ihrer Kaffeetasse.
„Er hat die Maschine in die Luft gebracht und zu spät gemerkt, dass etwas damit nicht in Ordnung war. Nur mit großer Mühe hat er sie wieder landen können. Sie ist wohl verbrannt, aber er konnte sich retten. Danach konnte er nie wieder fliegen.“
„War das hier am Flughafen Wiesental?“, fragte Johannes. „Georg hieß der also? Lebt er noch?“
„Nein“, sagte Franziska.