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Erinnerung für Kriegs-Urenkel
„Du willst wissen, was Quadratscheißer sind?“, fragte Juliane, die alte Lehrerin, die sie Julischka nannten, ihren Urenkelsohn. „Das kann ich dir sagen – ich habe es nämlich erlebt, damals, als sie uns in die Ukraine verschleppten, in Viehwaggons, im Januar 1945, ohne Heizung, ohne Toiletten. Die Männer, na, eigentlich waren es unsere Jungs, Hermann und Ojnzo und Mischi, mit denen ich zur Schule gegangen war, die sägten ein Quadrat aus dem Boden des Waggons, mit einer Säge, die sie von den Russen hatten, oder von den Ukrainern, keine Ahnung, von den Sowjets jedenfalls, damals sagten wir Russen zu allen. Und durch dieses Loch mussten wir alle, Männer und Frauen und Jungen und Mädchen, also, wenn wir mussten, was wir mussten …“, Julischka sprach selten von „Scheiße“ oder ähnlich vulgären Dingen, aber Adrian verstand auch so, was sie meinte.
„Der Krieg war faktisch zu Ende damals, oder so ähnlich“, fuhr Julischka fort, „Rumänien hatte nach dem Putsch vom 23. August 1944, den sie nachher jahrzehntelang die Befreiung vom faschistischen Joch nannten, das Militärbündnis mit dem Deutschen Reich gekündigt und sich im Krieg auf die Seite der Alliierten geschlagen. Postfaktisch, wie ihr heute sagen würdet, also gefühlt, für uns Deportierte, war natürlich gar nichts zu Ende, außer unserer Hoffnung auf eine Zukunft und ein normales Leben irgendwann in absehbarer Zeit. Wir wussten nicht, wohin wir fuhren, wir wussten nicht, was wir dort sollten, wir wussten nicht, wie lange wir bleiben würden, und wir wussten auch nicht, ob wir je wieder zurückkommen könnten zu unseren alten Eltern, unseren kranken Großeltern, unseren kleinen Kindern. Alles war, modern gesprochen, ergebnisoffen, und das Ergebnis war, wie sich später zeigte, auch nicht für alle gleich, es brachte manche von uns nach Hause zurück, verschlug andere nach Deutschland und bedeutete für viele ein kaltes Grab in der ukrainischen Fremde. Auch für dich, mein Kind, ist das nicht unwichtig, denn mich schickten sie nach Ülzen in Niedersachsen ‚zurück‘, wo ich nie gewesen war, und das taten sie nur, weil ich im Lager schwanger wurde, von einem ukrainischen Wärter, dessen Namen ich nicht einmal kannte.“
Hätte es ihn nicht gegeben, folgerte Adrian, gäbe es ihn selbst auch nicht, und wäre Julischka nicht in ein Land geschickt worden, das sie nicht kannte, wäre seine Oma vielleicht Ukrainerin geworden, und sie hätte seinen Opa, der aus Dänemark stammte, nie kennengelernt – wie zufällig und beliebig doch Geburtsorte und Herkunft waren!
(Mit einem Dankeschön an Christiane für ihre Einladung zu den abc-Etüden, diesmal die Nummer 2 mit den Wörtern „Quadratscheißer“, „postfaktisch“ und „ergebnisoffen“, die wie immer in maximal 10 Sätzen unterzubringen waren. )