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Steinchen sammeln
„Lass den Stein doch liegen, der ist schmutzig,“ will ich gerade sagen und mache schon den Mund auf dazu.
Ich gehe mit meiner Enkelin spazieren, tapp-tapp nennt sie das, und sie macht (manchmal) „riesengroße Schulkindschritte“, weil ich immer wieder „komm, komm, komm“ rufe. Mit riesengroßen Schulkindschritten ist sie fast so schnell wie ich bei normal-gemütlichem Tempo. Aber verständlicherweise sind die meisten ihrer Schritte kindergartenklein, denn sie ist erst zwei Jahre alt und eben erst ein Kindergartenkind geworden, „ein echtes“, wie sie betont.
Sie liebt Steinchen. Sie siebt sie aus dem Sand, klaubt sie von Kieswegen, fischt sie aus Blumenbeeten und verstaut sie am liebsten in meiner Hand: „Oma! Für dich!“
Ich bemühe mich zu lächeln, statt zu stöhnen. Ich habe schon drei vertrocknete Zweige zu schleppen, von einer Babypuppe und deren Puppenbuggy ganz abgesehen. Die Puppenmama hat für sowas keine Hände frei. Sie muss arbeiten, das muss ich verstehen. Ich darf die Steinchen auch keineswegs wieder fallenlassen, die sind fürs Regal in meinem Flur bestimmt, wo sie in der Marmeladenglas-Schatzkiste neben der vertrockneten Knetmasse ihren Platz bekommen sollen.
„Wenn wir mal viel Zeit haben, Oma, und wenn du Farbe gekauft hast, dann könnten wir die doch anmalen“, findet das Mädchen. Ja. Könnten wir. Zeitungen aufs Parkett breiten, mit Malerkrepp ankleben, Malkittelchen anziehen – „du aber auch, Oma!“ – auf dem Boden herumkriechen und Pinsel anreichen, mit Papiertaschentüchern das Kindergesichtchen säubern, „nicht abschlecken!“ rufen und zum Schluss, abends, wenn das Kind wieder bei seinen Eltern ist, die bunten Gebilde lackieren und zum Trocknen auf den Balkon bringen. Als Weihnachtsgeschenke für Uroma und Uropa vielleicht? Mama und Papa haben nämlich die ganze Wohnung schon voller ähnlicher Kunstwerke. Und Oma auch.
Aber weil die Steinchen schmutzig sind, müssen sie erst geduscht werden. In meiner Badewanne. Das Bad sieht nachher aus, als hätte es einen Profi-Putzmann nötig, aber ich bin meine eigene Putzperson. Da hilft anschließend nur schmerzstillendes Gel gegen das Stechen im Rücken.
Nein, Omas sind nicht immer automatisch nett, ich jedenfalls bin es nicht. Nicht beim Steinchensammeln. Dabei müsste ich nur die Uhr ein paar Jahrzehnte zurückdrehen, nicht wahr? Dann ginge ich an der Hand meines Opas zum Bahnhof der Schmalspurbahn, und der Bahnhof käme mir unendlich weit vor, obwohl wir in der Bahngasse wohnten und nur einige wenige Häuser weit zu laufen hatten.
Opas Hand umfasste mein Händchen und war sehr groß und immer warm, auch bei Wind und Wetter, Regen und Frost. Und zu jeder Jahreszeit durfte ich mit ihm Steinchen sammeln gehen, Steinchen, die am Bahnhof als Kies haufenweise zwischen den aufgelassenen Gleisen lagen. Dass sie schmutzig sein könnten, habe ich mir damals nie überlegt. Obwohl es ein Hauptspaß war, sie hinterher mit Opa zu waschen. In der Waschschüssel in Omas und Opas Wohnküche, am Küchentisch, neben dem grünen gekachelten Herd, während Oma das Abendessen kochte.
„Passt bloß auf, dass euer Schmutzwasser nicht in mein Essen spritzt“, schimpfte Oma vorsorglich. Und das taten wir, Opa und ich (oder doch nur Opa?), aber der Dielenboden musste hinterher gescheuert werden. Das erledigte Opa, was ich normal fand, schließlich war ER es ja, der die Steinchen in seiner Hand vom Bahnhof in die Wohnung hatte tragen wollen, in der linken Hand, an deren kleinem Finger ich mich festhielt, weil sonst nichts mehr frei war. Denn in der rechten Hand trug Opa meinen Teddybären und meinen Tretroller, für den ich zu müde war.
„Lass den Stein doch liegen, der ist schmutzig,“ hätte ich gerade fast gesagt. Ich habe schon den Mund dazu aufgemacht. Aber ich mache ihn rasch wieder zu und denke an meinen Opa, der jetzt 113 Jahre alt wäre, wenn er noch lebte.
Ob er wohl ähnliche dumme Sätze hat verschlucken müssen? Falls ja, habe ich es nicht gemerkt. Ich lasse eine Handvoll Steinchen in meiner Windjackentasche verschwinden und spüre das Händchen meiner Enkelin an meinem kleinen Finger. Die ganze Hand kann ich ihr nicht geben, denn da sind ja noch die vertrockneten Zweige, die sie für die braune Vase in meinem Wohnzimmer vom Gehweg aufgehoben hat.
Leere
Das Meer holte weißgrünen Schaum aus der Unendlichkeit, zerschmetterte ihn an den Felsen und pinselte daraus abstrakte Muster in den Ufersand. Gott war ein Wassermaler. Es gab keine Zeit. Kein Jetzt, kein Nachher, kein Gestern, kein Morgen, kein Später und kein Irgendwann. Es gab nur die Ewigkeit.
Einen Urlaub lang.
Irgendwo weit hinten – sehen konnte ich ihn nicht – lag Maximilian, in dem Liegestuhl, den er heute Morgen unserer Privatvermieterin abgebettelt hatte. Vermutlich döste er. Falls er nicht noch dabei war, eines der Sudokus zu lösen, die er in Überzahl in unseren Koffer gestopft hatte. Sonst war da nichts. Kein Haus, kein Auto, kein Kiosk, kein Mensch, keine Muschel, keine Qualle, nicht einmal eine Möwe. Himmel und Wasser spielten mit der Hitze Federball. Der Himmel warf sie aufs Wasser, das Wasser warf sie zurück. Wieder, wieder und wieder. Die Luft stand flimmernd am Horizont und wartete vergeblich auf den Seewind, der sie über Meer und Land verwirbeln würde wie ein Ventilator.
Gern hätte ich meine Badelatschen ausgezogen, aber der Sand war zu heiß dafür. Ob die Kinder in Annegrits Schule, tausende Kilometer von hier, jetzt hitzefrei hatten? Egal. Annegrit hatte kein hitzefrei mehr. Und keine Ferien. Und sie würde nie wieder die Schule schwänzen, um durch den Regen zu rennen. Die Schwimmflügel, die ich ihr letzten Sommer gekauft hatte, in ihrer Lieblingsfarbe Neonpink, lagen originalverpackt in ihrem Kinderzimmer.
Ich presste die Lippen zusammen, fuhr mir mit der Zunge über die Mundwinkel und schmeckte Salz. Wie ich die Sonne hasste! Diese Sonne, die wie ein künstliches Höhenfeuer auf die Erde herunterbrannte, ein Höhenfeuer ohne Knistern, ohne Qualm, ohne Ende.
Annegrits Zimmer war abgeschlossen und würde es bleiben. Bis irgendwann … aber … es gab ja kein Irgendwann mehr. Kein Auto. Keinen Kiosk. Keine Annegrit. Nie wieder würden ihre Sommersprossen um ihre Stupsnase tanzen, wenn sie verschmitzt versuchte, Maximilian und mich gegeneinander auszuspielen, um trotz aller Verbote an ihre Gummibärchen oder ihr abendliches Ballspiel zu kommen.
Ich fror plötzlich und wickelte mir mein Strandkleid fester um die Schultern. Irgendwo schrie ein Kind. Irgendwo, aber nicht hier. Und nicht heute. Ich drehte mich landwärts und folgte den Spuren meiner Badelatschen zurück durch den glühenden Sand. Es gab keine Zeit. Kein Jetzt, kein Nachher und kein Irgendwann.
Das Meer holte weißgrünen Schaum aus der Unendlichkeit, zerschmetterte ihn an den Felsen und pinselte daraus abstrakte Muster in den Ufersand. Gott war ein Wassermaler.
Und nein, ich verstand ihn nicht.
(Mit Dank an „Christiane“ für die Anregung, aus den zehn Wörtern Badelatschen, Hitzefrei, Höhenfeuer, Liegestuhl, Qualle, Qualm, Schwimmflügel, Sommersprossen, Ventilator und Wassermaler einen Text zusammenzusetzen, in dem Regen eine Rolle spielt; diese Geschichte ist mein vierter Versuch dazu.)
Neuanfang
Veronika stopfte die Badelatschen ihres Mannes in den blauen Müllsack neben der Eingangstür, in dem schon die quietschgelben Schwimmflügel von Marion und der kaputte Ventilator lagen. Sie strich sich eine widerspenstige graue Strähne aus dem Gesicht und stellte dabei erstaunt fest, dass die tiefen Furchen, die von ihren Augen zum Mund hin führten, nass waren wie kleine Rinnsale. Sie merkte schon lange nicht mehr, wenn sie weinte.
Eigentlich war sie froh, die Badelatschen loszuwerden. Schon vor Jahren (oder waren es Jahrzehnte?) hatte sie ihren Mann bei jeder Altkleider-Aufräumaktion gebeten, die Schuhe dazuzulegen. Deren Farbe war verblichen, das Material (billiges Plastik) vor Altersschwäche spröde und rissig geworden. Aber Joachim hatte sich nie von Schuhen trennen können. Eine Schwäche, die Veronika immer gehasst hatte. Und die sie jetzt vermisste, oh, so sehr … noch einmal diesen Streit, bitte, noch einmal, nur noch einmal!
Es war ein dummer Wunsch. Das Leben hatte Joachim endlich von den Schuhen und von so vielem anderen getrennt, das er nicht hatte loslassen wollen. Erst war er vom Läufer zum Rollstuhlfahrer geworden, hatte die Badelatschen nur noch angucken können, voller Wehmut und Selbstquälerei. Dann wurde aus dem aktiven Rollstuhlfahrer ein passiver Rollstuhlnutzer. Vor einem Jahr, vier Monaten und 22 Tagen hatte Veronika seinen letzten Wunsch erfüllt und seine Asche ins Meer streuen lassen. Wie absurde Sommersprossen hatten die schwarzgrauen Körnchen eine Weile auf den gleißenden Wellen getanzt, ehe sie in die Tiefe gesunken waren.
Aus.
Vorbei.
Auch Marion würde an ihren Schwimmflügeln nie wieder Interesse zeigen, an diesen Gummidingern, die keine zehn Minuten mehr die eingepumpte Luft halten konnten. Veronika sah Joachim und das Kind damit im Uferwasser planschen, in den Gischt brechender Wellen springen, hörte Marions Jauchzen und Joachims beruhigend tiefe Stimme, wenn Marion vor Angst brüllte, weil sie eine Qualle gesichtet hatte, freute sich, wenn er sie in seinen starken Armen auffing und mit ihr zum Liegestuhl gerannt kam, dass um sie herum das Wasser nur so spritzte. Zu dem Liegestuhl, in dem Veronika saß und ihren Studienbrief bearbeitete. Zu dem Liegestuhl, den gestern der Sperrmüllwagen abgeholt hatte.
Was Marion wohl im Moment tat und dachte? Zum Glück hatte sie nicht den Typen geheiratet, den Veronika insgeheim immer den „Wassermaler“ nannte, weil er ihr so windig vorkam wie der Schneider, der weiland dem berühmten Kaiser die neuen Kleider verpasst hatte, die niemand sah. Ein Luftikus, der mit immer neuen „Projekten“ ohne Inhalt viel Geld verdienen wollte und es niemals tat. Viel Qualm um nichts. Rauch ohne Flammen.
Irgendwo in Südamerika war Marion stattdessen gelandet, Veronika wusste nicht einmal das Land. Irgendwo in einem Dorf im Urwald, in dem es weder Internet noch Telefon, weder Strom noch eine Poststation gab. Missionarin war sie geworden, der kleine Wildfang, ausgerechnet. Nur ganz selten erhielt Veronika über ihre Zentrale eines dieser Rundschreiben, in dem sie aller Welt (und darunter auch ihrer Mutter) erzählte, was sie in den letzten Monaten erlebt hatte. Und immer ging es dabei um die Menschen in ihrem Dorf, ihre Krankheiten, ihren Alltag, ihren Glauben. Nie um Marion selbst. Ob sie inzwischen einen Partner hatte? Kinder vielleicht? Oder eine Partnerin? Ob sie noch lebte? Veronika wusste es nicht.
Sie wusste nur, dass Marion nicht zurückkommen würde, obwohl es niemals einen ernsthaften Streit zwischen Mutter und Tochter gegeben hatte. Sie hatte sich nur eben für diesen seltsamen Lebensweg entschieden, und Veronika hatte sich damit abfinden müssen. Marion und die Tropen. Eine abwegige Vorstellung – und doch Realität. Wie sehr hatte Marion immer unter zu heißen Sommern gelitten! Wenn es in der Schule „hitzefrei“ gab, verkroch sie sich im kühlen Keller, mit einer Tüte voller Butterkekse und einer Karaffe mit Wasser, in die sie die gesamten Eiswürfel aus dem Gefrierschrank warf, und einem Abenteuerroman zweifelhafter Qualität, den die Mutter lieber nicht sehen sollte. Auf Spanisch oder Portugiesisch. Damit die Eltern nicht beurteilen konnten, was sie las.
Veronika betrachtete die blutrünstig aussehenden Titelseiten der zerlesenen Taschenbücher und schichtete sie in den Karton zu dem übrigen Altpapier. Gehäckselte Kontoauszüge, Uralt-Steuererklärungen, Liebesbriefe von Joachims erster Frau aus der Zeit vor seiner ersten Ehe, Mietverträge für Wohnungen, die seit dreißig oder mehr Jahren von anderen bewohnt wurden, Studienunterlagen, Schulhefte, Postkarten aus aller Welt, zerfledderte Notenblätter. So vieles sammelte sich an, wenn der Platz dafür vorhanden war.
Aus.
Vorbei.
In Zukunft würde Veronika keinen Platz mehr für das ganze Zeugs haben. Nur das Nötigste durfte mit. Nie wieder Hitzefrei. Dort, wo sie hinging, gab es kein Meer, keine Terrasse, keinen Balkon, keinen Garten, keinen Sommer. Nur Eis und Schnee. Und zwei hoffentlich gut beheizte Zimmer, eines zum Wohnen, eines zum Arbeiten. Ohne Mobilfunk. Ohne Festnetzanschluss. Nur ein Hubschrauber würde einmal wöchentlich landen, um die Post einer Woche mitzubringen (hoffentlich manchmal auch eine Nachricht von Marion!) und ihre Arbeitsergebnisse der letzten Tage zu ihren Auftraggebern zu befördern.
„Es ist nicht viel anders als bei meiner Tochter“, hörte sich Veronika zum Capo des Entrümpelungsunternehmens sagen, der gerade neben ihr Kaffeepause machte. „Nur kälter. Viel kälter. Und nicht so religiös. Aber sonst …“ Der Capo sog an seiner Zigarette und schwieg. Sollte er doch. Der Qualm würde Veronika nicht mehr lange stören.
Draußen prasselte der Regen auf den Asphalt, sprühte aus den Pfützen wolkenwärts, tanzte schnürend im Wind. Die Pappeln verneigten sich und winkten mit den Ästen, als wollten sie sich von Veronika verabschieden, während die sich vom Taxi zum Flughafen fahren ließ. Oben auf den Hügeln entlang des Weges hatten die Höhenfeuer Mühe, sich gegen das herabströmende Wasser zu behaupten.
„Das war’s dann hier“, sagte Veronika zu der Taxifahrerin, ehe sie ausstieg und zum Gate ging. Noch einmal machte sie sich auf ins Unbekannte, zu einem großen, letzten Abenteuer. Warum auch nicht? Sterben konnte sie überall gleich gut.
(Mit Dank an „Christiane“ für die Anregung, aus den zehn Wörtern Badelatschen, Hitzefrei, Höhenfeuer, Liegestuhl, Qualle, Qualm, Schwimmflügel, Sommersprossen, Ventilator und Wassermaler einen Text zusammenzusetzen, in dem Regen eine Rolle spielt; diese Geschichte ist mein dritter Versuch dazu.)
Zauberwesen
Ich bin ausgewandert. „Gestern“, würde meine Enkeltochter sagen, oder „vorhin“ oder „früher“. Tatsächlich ist es noch keine 45 Jahre her, für Zweijährige eine unvorstellbare Ewigkeit, für mich immerhin über zwei Drittel meines bisherigen Lebens. Ja, ich war zu dem Zeitpunkt schon so gut wie erwachsen, und ich hatte Gründe für meinen Schritt ins Unbekannte: Wenn das Bekannte unerträglich wird, wächst der Mut zum Risiko, und die Entscheidungsfreude steigt.
Ich ließ vieles zurück, was mich dort, wo ich lebte, noch mindestens bis 1989 begleitet hätte: Securitate und drohenden Dienst an der Waffe, Schlangen vor den Lebensmittelläden und die für Journalismus-Ausbildung zuständige Parteihochschule in Bukarest, dunkle Abende ohne elektrischen Strom, brüllendheiße Sommer mit ausgetrockneten Brunnen, bitterkalte Winter mit der Angst davor, das Heizgas abgedreht zu bekommen, den Flüsterton beim Erzählen harmloser Witze, das routinemäßige Schließen der Fenster vor jeder privaten Unterhaltung, das Lügenmüssen und das unvermeidliche Mitschuldigwerden an einer Diktatur, die sich in die Küchen und Schlafzimmer, in die Obstgärten und Kinderseelen fraß.
Ich ließ auch vieles zurück, was ich ohnehin hätte zurücklassen müssen, weil mein Auswandern aus dem Land meiner Geburt zusammenfiel mit meinem Auswandern aus der Zeit meiner Kindheit. So opferte ich meine Puppen, die Hema und Annegritt hießen, meinen Teddybären Burri-Bär, meinen türkisblauen Plüschhund, alle meine Lieblingsbücher, mein Bett und „mein“ Klavier, das eigentlich das Familienklavier war, meinen Platz auf dem dicksten Ast des alten Nussbaums, mein Versteck auf der morschen Bank unter den zwei riesigen Jasminsträuchern. Nicht nach und nach, sondern von jetzt auf gleich. Ungefähr so, wie ich über 40 Jahre später meinen Mann verlor: Gerade noch war er da, gesund und fröhlich, plötzlich war er tot, einfach so.
Ob mich das traumatisiert hat? Vielleicht. Sind wir nicht alle traumatisiert? Falls daraus eine Störung entstanden sein sollte, habe ich sie im Griff, glaube ich. Zumindest meistens. Wie die meisten anderen Menschen. Aber darüber will ich gar nicht schreiben. Denn neben allem anderen ließ ich auch Sachen – Gestalten – Erscheinungen? – zurück, an die ich damals nicht dachte. Meinen Zauberstorch zum Beispiel, der die Nacht machte. Er wohnte im Gebüsch entlang unseres Gartenzauns und war tagsüber nicht zu sehen, nachts aber flog er hoch über die uralte Fichte (na ja, sie war damals etwa 40 Jahre jung, wenn ich nachrechne), breitete seine Schwingen über den ganzen Himmel aus und ließ nur ein paar Lichtsterne durchblitzen. Im Schnabel aber hielt er den Mond, als Sichel, als Halbkugel, als Ball, wie es ihm gerade gefiel.
Auch die Brunnenfrau blieb, wo sie war, in dem Ziehbrunnen hinten am Hof, in dem sie meistens schlief oder spielte, was wusste denn ich, manchmal aber darauf lauerte, dass ein Kind nicht vorsichtig war, wenn es Wasser in den verbeulten Blecheimer schöpfen sollte. Die Brunnenfrau nämlich mochte Kinder gern und wollte sie deshalb nach unten ziehen, zu sich in den Brunnen. Wenn ihr das nicht gelang, schickte sie wenigstens Münzen in die elterlichen Hände, die wir Kinder dann auf unerklärliche Art in der Badewanne fanden, wenn wir samstags saubergeschrubbt wurden. Eimer für Eimer wurde dafür auf dem Herd warm gemacht, bis die Wanne halb voll war, sodass wir sie zu dritt benutzen konnten. Zum Glück hatte sie wenigstens einen Abfluss und musste also nicht auch noch ausgeschöpft werden.
Und dann war da noch der Klogeist. Das war ein weniger sympathisches Zauberwesen, das im Plumpsklo hinter dem Misthaufen wohnte. Einmal, lange vor meiner Geburt, hatte er ein Lebendopfer gefordert, die kleine Hündin Hanka, die durch das Loch im Holzsitz gefallen und im menschlichen Flüssigdung ertrunken war. Die Geschichte war sehr abschreckend und machte uns desto vorsichtiger, denn das Loch war so groß, dass ein Kind problemlos durchpasste, und so setzten wir uns immer brav auf den Rand und zitterten davor, dass der Klogeist uns am Popo packte und zu sich in den stinkenden Untergrund zog.
Vielleicht gab es noch andere Zauberwesen in meinem Köpfchen, ich weiß es nicht mehr, 40 Jahre sind eben doch länger als 40 Minuten. Aber es waren bestimmt nicht so viele Wesen, wie sie durch das Köpfchen meiner Enkeltochter und damit unsichtbar auch durch meine Wohnung und mein Leben spuken. Angeführt wird die Geistermeute von einem lila und einem rosa Gespenst, oder waren es das lila und das rosa Monster? Der lila Dinosaurier und der rosa Dinosaurier gesellen sich dazu, und der lila-rosa gestreifte Tiger ist selten weit weg davon. Eigentlich sind die Wesen alle lieb. Es handelt sich um Babywesen, die ihre Mama suchen, die Mama Gespenst und die Mama Monster, die Mama Dinosaurier und die Tiger-Mama. Die gibt ihnen Mamamilch, es sei denn, sie kommen aus dem Ei wie die Dinosaurier, dann nimmt sie die Babys nur auf den Arm und kuschelt mit ihnen. Auch das Papa-Gespenst, das Papa-Monster, der Papa-Dinosaurier und der Papa-Tiger sind beliebte Figuren.
Angst zu haben braucht man vor den rosalila Wesen nicht, weiß meine Enkeltochter. Man muss sich nur immer wieder sagen, dass sie nicht gefährlich sind. Besonders der Tiger frisst einer sonst möglicherweise die Beinchen ab, falls die nicht zugedeckt sind – aber er meint es nicht böse, erklärt sie mir, er ist nur „stürmisch“. Mama, Papa und Oma sind stark genug, eine vor den Zauberwesen zu schützen, und neuerdings ist auch „große Schwester“ so mutig, ihren Baby-Bruder gegen die Fantasiegestalten ihrer kleinen Welt zu verteidigen: „Geh weg, Dinosaurier! Geh weg, Gespenst! Lass das Brüderchen in Ruhe!“, sagt sie tapfer und wedelt die unsichtbaren Kreaturen von Babys Wippe weg.
So also sind die Zauberwesen neu gekleidet in meine Welt zurückgekehrt. Lila sind sie und rosa und lieb, und manchmal eben … ein bisschen stürmisch. Schlimmstenfalls.
Auf gut Glück
„Verdammter Aasvogel!“ Polizeiobermeisterin Annette Busch und Polizeihauptmeisterin Johanna Gutlieb, beide von einer Kölner Polizeidienststelle, vertrieben mit angedeuteten Fußtritten den letzten Mäusebussard vom Mittelstreifen der Autobahn, der dort, anders als die anderen Bussarde, geduldig ausgeharrt hatte, vom Blaulicht des Polizeifahrzeugs rotierend angestrahlt.
Die Autobahn war eine gute Speisekammer für Mäusebussarde, immer wieder gab es Igel oder Hasen, Katzen oder Mäuse, manchmal sogar Füchse und Hunde, die unvorsichtig genug waren, sich auf die Fahrstreifen zu wagen. Diesmal war ein Pony entlaufen, von einem Pferdehof bei Junkersdorf.
Das Pony war an der Unfallstelle – zwei Pkw, ausgebrannt, Totalschaden ohne Überlebende – nicht gefunden worden, die beiden Kölner Beamtinnen sichteten Spuren auf gut Glück, stocherten im Nebel, suchten nach Dingen, die nicht hierher gehörten, um etwas über die Unfallursache herauszufinden. Sie fanden eine Weckeruhr, ein Modeschmuck-Armband, einen angebissenen Hamburger, einen leeren Flachmann, sieben Zigarettenkippen und eine seltsam verformte Plastiktüte mit der blauen Aufschrift eines Discounters.
„Die Tüte muss aus einem der Autos geschleudert worden sein, sie ist ganz neu“, sagte die Polizeihauptmeisterin und prüfte den Inhalt: eine Babypuppe, originalverpackt und mit rotem Geschenkband umwickelt.
„Die war heute im Sonderangebot“, sagte die Polizeiobermeisterin, „ich habe versucht, eine zu kriegen, aber als ich meine Kleine endlich im Kindergarten abgeliefert hatte, war alles schon ausverkauft.“
In den Unfallwagen war kein Kind gewesen. Die Polizeihauptmeisterin strich der Puppe das Kunsthaar aus der Plastikstirn und hoffte, dass sie eine Überraschung hätte werden sollen, weil es dann kein Kind geben musste, dass irgendwo vergeblich auf ein Geschenk wartete, das jetzt in der Asservatenkammer unter dem Landgericht an der Luxemburger Straße landen würde.
(Kürzestgeschichte in 10 Sätzen aus den drei selbst vorgegebenen Wörtern Aasvogel, Babypuppe, Beamtinnen)