Beruf: Krisenjournalistin. Status: Urlaub.

Und es springen dich, das Smartphone ist kaum weggelegt, die leeren Wölfe wieder an, grausam packen sie dich von allen Seiten, du kannst ihnen nicht entrinnen. Du spürst ihre Krallen in deinem Fleisch, und du horchst auf die Angst, die dich erwürgen will. Du suchst ihren Ursprung, nein, nicht ihren Grund, sondern den Punkt, an dem sie entspringt, ganz körperlich: Im Magen? In der Lunge? Oder doch mehr links, in der Nähe des Herzens?

Du konzentrierst dich auf die Ströme, die Stromstöße, die dich durchpulsen: Wo enden sie? Sind die Finger noch betroffen? Die Arme sind es. Aber die Beine?

Nein. Die Angst reicht bis zur Gürtellinie, darunter ist nichts. Auch die Finger vibrieren noch. Und der Kopf? Im Hals ist es sehr heftig. Im Hals. Und in den Ohren, ja. In der Nase. Selbst die Haare… Die Angst füllt den Kopf bis zu den Haaren.

Du siehst die Wölfe, siehst durch ihre Körper hindurch deinen roten Teppich mit den orientalischen Mustern, du kennst die Muster, der iranische Lebensbaum mit den beiden Vögeln, ein blumiger Dreispross mit gespaltenem Stamm, handgeknüpft. du siehst dein Blut durch die Adern der Bestien rinnen, die keine Körper haben, es rinnt durch ihre Adern und beschmutzt deinen Teppichboden nicht, und Kaffee, du weißt es, ist nicht gut für dich in deinem jetzigen Zustand der unerträglichsten Nervenanspannung, gar nicht gut, du weißt es; aber was kannst du sonst tun?

Es ist kalt in deinen Zimmern, plus dreiundzwanzig Grad Celsius zeigt dein Zimmerthermometer, und du frierst. Du siehst die braune, heiße Flüssigkeit deine Luftröhre hinunterrinnen, nicht die Speiseröhre, Koffein ist Gift, und im Fernsehen, in diesem kleinen klobigen Gerät vom Sperrmüll, sagen sie Ukraine-Iran-Afghanistan-Palästina-Israel-Prinzip Selbstverteidigung-Opfer-EU-Pegida-Ehrenmord-Nation-Flüchtlinge-Weltfrieden-Demokratie-Freiheit-Ausländerfeindlichkeit-Solidarität-Bündnistreue-NATO-Rüstungskontrolle… Du hörst nicht zu, denn vor dem Fernsehapparat hocken die toten Wölfe und heulen grau, und auf deinem Netbook ist eine E-Mail-Datei geöffnet, Münster, am 31. März.

Es ist ja kein Ost-West-Konflikt, sagt jemand ganz fern, du bist es selbst, die redet, du bist zweitausend Kilometer weit weg von dir in einem anderen Land und weißt nicht, dass dich hier die Wölfe zerfleischen, du sagst: „Es ist ja kein Ost-West-Konflikt, eher Nord-Süd“, als wäre das unwichtig, aber wenn Russland…

Die Wölfe graben dir ihre Zähne in die entblößten Brüste, du möchtest schreien, aber keiner wird dich hören, das kurdische Liebespaar über dir hört klassische Musik auf seiner neuen Stereoanlage, und ringsum ist nichts als die endlose Steppe, in die du zerfließt.

Du solltest arbeiten. Arbeit lenkt ab. Arbeit –

Aber mit dem weißen Wolf, der von innen heraus deine Magenwand frisst, oder ist es eine Schlange, oder…

Hast du dir das gewünscht? Die Zähne in deiner Magenwand, die in deinen Hals gekrallten rubinroten Schnüre? Und dieser Lautsprecher am Smartphone sagt kein Wort mehr. Er wird kein Wort mehr sagen bis morgen Früh, wenn du ihn wieder aktivierst, während die wütenden Wölfe ihn auszuschalten versuchen, sodass du stundenlang warten und dir von ihnen die Magenwand durchfetzen lassen musst. Und nach fünf Minuten wird die Stimme wieder abbrechen, das Display wieder erlöschen wie bei all den abgefangenen E-Mails, die du nie erhalten wirst.

Du weißt: Es gibt Feindschaften, die nicht einmal mit Tränen zu besiegen sind.

Über Elke H. Speidel

ist Publizistin und Soziologin und arbeitet als Fachautorin, gelegentlich auch als Schriftstellerin, Lebenswegberaterin oder Wissenschaftslektorin.

Veröffentlicht am 31. März 2015, in Realismus. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. Hinterlasse einen Kommentar.

Hinterlasse einen Kommentar