Milchmädchenmathematik

Als ich ein Kind war, kam jeden Abend Dorina bei uns vorbei, die in jeder Hand eine Kanne Milch trug, und fragte uns, wie viel wir davon brauchten.  Dorina wohnte zwei Häuser weiter und war die Tochter von Doamna Morescu, die zwei Kühe im Stall stehen und somit mehr Milch zur Verfügung hatte, als sie brauchte.

Wir nannten Dorina nie anders als „unser Milchmädchen“. Ich weiß nicht, wie sie den Preis der Milch berechnete, den sie in bar von meiner Mutter kassierte, einen Taschenrechner hatte sie jedenfalls nicht dabei, und trotzdem nannte sie die Summe sehr schnell, viel schneller, als ich sie hätte ausrechnen können, und meine Mutter hatte niemals etwas daran auszusetzen. Dorinas Milchmädchenrechnung stimmte immer, und meine Mutter war da (als Dorinas Mathematiklehrerin) ziemlich pingelig.

Gern hätte ich Dorina ab und zu bei einem Fehler ertappt und ihn dingfest gemacht, um ihn meiner Mutter unter die Nase zu reiben, damit sie mich und meine zweifelhaften Mathematikfähigkeiten nicht mehr mit denen Dorinas verglich, aber es gelang mir nie. Das Nachbarmädchen war so pünktlich wie ein Uhrwerk, und wir hatten großes Glück mit den Kühen ihrer Mutter, denn die Familie wohnte nur zwei Häuser weiter, und so hatten wir jeden Tag die Milch, die wir brauchten, während die meisten anderen Menschen in unserer Kleinstadt schon um fünf vor dem staatlichen Milchladen warteten und nicht selten um acht mit leeren Händen wieder nach Hause geschickt wurden. Spätestens um neun hieß es dann: „Wir haben hier keine Milch, kein Fleisch gibt es nebenan“, denn gleich daneben war eine Fleischverkaufsstelle, deren Regale ebenso leer aussahen wie die Regale im Milchwarenladen.

Obwohl es natürlich aller Ehren wert gewesen wäre, hätte Dorina später die Leitung des Milchwarenladens übernommen, so müsste ich übrigens untertreiben, wenn ich ihre mathematische Karriere darauf beschränken wollte. Denn sie lebt heute als emeritierte Professorin der Differentialgeometrie und Globalen Analysis in Bukarest und forscht aktuell zu Fragen der symplektischen Geometrie und Topologie.

(Danke, liebe Christiane, für die Einladung zu den abc-Etüden, bei denen diesmal aufgrund einer Wortspende von Anna-Lena (danke auch dir!) die drei Wörter „Milchmädchenrechnung“, „dingfest“ und „untertreiben“ in maximal zehn Sätzen unterzubringen waren.)

Über Elke H. Speidel

ist Publizistin und Soziologin und arbeitet als Fachautorin, gelegentlich auch als Schriftstellerin, Lebenswegberaterin oder Wissenschaftslektorin.

Veröffentlicht am 25. April 2018 in Allgemein, Kürzestgeschichten, Realismus und mit , , , , getaggt. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. 8 Kommentare.

  1. eine fabelhafte Karriere, bravo! die Geschichte ist dir wieder sehr gelungen, gratuliere!

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  2. Ich habe deine Geschichten vermisst. Ich mag den Bogen, den du hier (wie so oft) spannst.
    Und nicht dass ich verstanden hätte, was „symplektische Geometrie“ ist, aber ich habe bisher nicht mal gewusst, dass es das gibt … 😉
    Liebe Grüße
    Christiane

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  3. Wow, ich bin von deiner Umsetzung schwer beeindruckt, liebe Elke.
    Liebe Grüße
    Anna-Lena

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  4. eine unglaublich gelungene Überraschung zum Schluss und ein nett entsorgtes Klischee.
    Natalie

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