Abschiedsbesuch

Das einundachtzigjährige Brautkleid sah so unmodern aus, wie es seinem Alter entsprach, die Plastikhülle war verstaubt, was kein Wunder war, da es seit fünfzehn Jahren in einer Ecke zwischen Spind und Wand eingeklemmt im Pflegeheimzimmer hing, hinter einem grünblauen Duschvorhang, höchstens viermal im Jahr notdürftig gereinigt von der Putzkolonne, die von Annemaries Mutter dafür jedesmal zum Teufel gewünscht wurde; Annemarie hätte das Kleid für vergilbt gehalten, wenn sie nicht gewusst hätte, dass es immer schon diese Farbe hatte, die ihre Mutter „schlüsselblumengelb“ nannte und über alles liebte, umso mehr, als ihr Vater sie schon lange nicht mehr leiden konnte.

Annemarie erinnerte sich noch an die späten Februartage ihrer Kindheit, weit weg von hier, in dem kleinen Dorf bei Maribor, in dem sie aufgewachsen war, sah die Abende vor sich, wenn ihr Vater von der Schafweide heimkam und der Mutter einen ersten Strauß Schlüsselblumen mitbrachte, und sie erinnerte sich auch, wann das aufgehört hatte und warum, da war dieser Versicherungsvertreter, der irgendwann zu oft die Nachmittage bei ihrer Mutter verbrachte, wenn ihr Vater mal wieder bis in die Nacht hinein außer Haus war, und dann der Krach, wenn der Vater endlich durch die hintere Tür ins Wohnzimmer angetorkelt kam, das zugleich Esszimmer und Arbeitszimmer und Schlafzimmer und Kinderzimmer war; Annemarie wusste nicht, ob das vor oder nach dem Versicherungsvertreter anfing, dieses Torkeln, nie sprachen ihre Eltern mit ihr darüber, sie fragte auch nie danach, aber sie wusste, dass sie sich ganz tief ins Bett verkriechen musste, gekuschelt an ihren Bruder Fritz, wenn es wieder soweit war, weil sie irgendwie an der Situation schuld zu sein schienen, weil beide Eltern sie schimpften, was auch immer sie taten, außer zu schlafen.

Nein, Annemarie hatte nicht gewusst, dass es dieses Brautkleid noch gab, mit dem sie als kleines Mädchen einmal heimlich gespielt hatte, wofür es eine so saftige Strafe gab, dass sie heute noch, inzwischen selbst achtzig Jahre alt, ihren Rücken und ihr Hinterteil schmerzhaft zu spüren meinte. Sie hatte sich als junges Mädchen nicht gewünscht, dieses Brautkleid selbst zu tragen, weil ihre Lieblingsfarbe Rosé war, nicht Schlüsselblumengelb, und sie hatte bei ihrer Heirat kein wirkliches Brautkleid gehabt, nur einen bunten Sommerrock mit einer weißen Bluse und einem breiten schwarzen Gürtel, denn sie fand, als ledige Mutter einer fünfjährigen Tochter stehe ihr ein Brautkleid nicht zu, weil die Sitten und Ansprüche damals andere waren als heute, obwohl der Bräutigam der leibliche Vater ihrer Tochter und lebenslang ihr einziger Partner war und blieb.

Ihre Mutter, deren verkorkste Ehe tatsächlich 70 Jahre hielt, bis zum Herztod ihres Vaters, und das trotz des Versicherungsvertreters, der 29 Jahre davon begleitete, ehe er starb, hatte sich für Annemaries nichteheliches Kind geschämt, weil die Nachbarinnen darüber tuschelten, sie hatte es nicht bei sich sehen wollen, dieses Kind der Schande, denn Diskretion ging ihr über alles, und von dem Versicherungsvertreter wusste niemand außer Annemarie, ihrem Bruder Fritz – Gott sei seiner Seele gnädig – und ihrem Vater, und sie hatte Annemarie vergeblich zu einer heimlichen Abtreibung zu drängen versucht.

Nicht auszudenken, wenn es Erika, Annemaries einziges Kind, nicht gegeben hätte, und dazu Erikas Töchter, Andrea und Franziska, die beide inzwischen eigene Kinder hatten, zwei kleine Jungen, die den Kindergarten besuchten und zwei kleine Mädchen, von denen das eine gerade kriechen lernte und das andere sich mit ersten eigenen Schrittchen abmühte, Annemarie war bestens über die Urenkel informiert, denn sie war eine moderne Frau mit Internetanschluss, und Erika schickte ihr regelmäßig digitale Fotos und Filmchen von den Kleinen.

Ins Pflegeheim war sie nicht oft gekommen, denn einerseits konnte sie auf das Zetern und Nörgeln ihrer Mutter immer gut verzichten, einer Mutter, die Annemarie bis zuletzt – und ohne Unterbrechung – behandelte wie eine aufsässige Vierzehnjährige, und andererseits war der Weg dahin weit und beschwerlich, weil die Mutter darauf bestanden hatte, ihre letzten Monate, die sich schließlich zu fünfzehn Jahren summierten, in Slowenien zu verbringen, das sie „Heimat“ nannte, was Annemarie, mit zwölf Jahren von dort auf die schwäbische Alb verpflanzt, nie verstehen konnte.

Angewidert drehte sie das hässliche slowenische Krüglein in den Händen, betrachtete den feuerspeienden Drachen auf dem Wehrturm zwischen den schlüsselblumengelben und dunkelblauen, ineinander verschlungenen Ornamenten auf cremefarbenem Grund, ein Tonkrüglein, aus dem die Mutter ihr früher die Milch in die Steinguttasse geleert hatte, abgekochte Milch mit ekelhafter Haut darauf, die Annemarie und Fritz nicht ablehnen durften, obwohl sie ihnen jedesmal Brechreiz verursachte. Daneben stand die Urne mit der Asche der Mutter, die Annemarie per Postpaket an ihren Wohnort schicken würde, obwohl sie nicht wusste, ob das im Sinn ihrer Mutter wäre oder ob Erika und ihre Kinder und Enkel irgendeinen Wert darauf legten, dass die Ahne im selben Grab bestattet würde wie Annemaries Vater und Annemaries Ehemann, zumal niemand außer Annemarie selbst in dem schwäbischen Dorf wohnte, zu dem der Friedhof gehörte, aber irgendwie war diese Hunderteinjährige halt doch ihre Mutter gewesen.

Annemarie sah aus dem Fenster des Pflegeheimzimmers in die trübe Februarlandschaft hinaus, die Wolken hingen tief, die Regentropfen trommelten ans beschlagene Glas, ab und zu graupelte es weißgrau, und der Sturm zerrte an den schwarzgerippten Parkbäumen, sodass sie wirklich froh war, ihren Studienfreund Erich mitgebracht zu haben, mit dem sie in Ruhe besseres Rückreisewetter abwarten und ein ganz klein wenig so etwas wie Urlaub genießen konnte.

(Mit einem lieben Dank an Christiane, die diesmal meine eigene Wortspende „Krüglein, schlüsselblumengelb, graupeln“ als Schreibanreiz für das Verwenden von drei Wörtern in zehn Sätzen weitergeleitet hat.)

 

Über Elke H. Speidel

ist Publizistin und Soziologin und arbeitet als Fachautorin, gelegentlich auch als Schriftstellerin, Lebenswegberaterin oder Wissenschaftslektorin.

Veröffentlicht am 3. Februar 2018 in Allgemein, Kürzestgeschichten, Realismus und mit , , , , , getaggt. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. 13 Kommentare.

  1. ist ja gut erzählt, Elke, aber sind 10 Bandwurmsätze denn erlaubt? Ich bin gespannt, was Christiane dazu meint 😉

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  2. Rein stilistisch finde ich es nicht so toll mit den überlangen Bandwurmsätzen, die Kommata machen für mich das Lesen so abgehackt, da geht die Lesefreude bisschen flöten. Andererseits ist da so viel Leben in 10 Sätze gedrängt, dass ich meinen nicht vorhandenen Hut ziehe und einfach ganz still bin.
    Liebe Grüße
    Christiane

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  3. Mich hat die Geschichte sehr gepackt

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  4. Das ist so eine Sache mit den Bandwurmsätzen, aber die Geschichte hätte nicht kürzer sein können. Vielleicht schreibst du sie nach deiner Fortsetzung ein klein wenig um und stellst sie als normele Geschichte wieder ein? 🙂 Etüdenunabhängig sozusagen 😉 .

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