Eine Provokation zu viel

„Mit ‚knallvergnügt‘ meinst du ’stinkbesoffen‘.“ Simone sagte es ganz ruhig, nicht vorwurfsvoll, auch nicht traurig, und drehte sich nicht einmal zu Jean-Marc um, während sie die Tulpen in der viel zu schweren Kristallvase arrangierte. Jean-Marc hasste Simone für diese Ruhe, diese Gleichgültigkeit, er hasste auch die verdammten Tulpen und Simones widerliche Kristallvase, die sie aus ihrem Geburtsland mitgebracht hatte, damals, vor zehn oder zwölf Jahren, als sie mit ihren Eltern und Geschwistern ausgewandert war, lange nach dem EU-Beitritt dieses ihres Herkunftslandes. Er merkte sich nie, welches Land das war – Bulgarien, Rumänien, Ungarn oder sonst einer dieser unzivilisierten Staaten im östlichen Europa, die er nie im Leben freiwillig besuchen würde.

„Auf deine Scheißkommentare kann ich verzichten“, lallte er in die Rippen seines Unterhemdes, während er es sich über den Kopf zog, ohne die Bierflasche aus der Hand zu legen.

Er wusste nicht, ob Simone seine Antwort gehört hatte, und es war ihm auch egal, die ganze Simone war ihm egal, ihre knallsaubere und knallaufgeräumte Wohnung, ihre knallnüchternen Freundinnen und Verwandten, die samt und sonders schon beim Rauch einer einzigen Zigarette die Nasen rümpften und pikiert schwiegen, wenn Jean-Marc versuchte, mit Simones Vater oder Bruder oder Vetter über wirklich spannende Themen wie Fußball oder Autos zu diskutieren, schnelle Autos, am liebsten knallrote, mit unendlich vielen PS unter der Haube und offenem Verdeck. Simones männliche Verwandte waren so langweilig wie sie, rauchten nie, tranken nicht, bevorzugten Marathonlauf und fuhren mit der Straßenbahn.

Hatte ihn damals ihr Blondhaar gereizt, das sie inzwischen schwarz hatte nachwachsen lassen, oder ihr Busen, der mittlerweile schlaff in Richtung Magen hing, hatte er sie nur beschützen wollen, weil sie so klein und zierlich aussah, wollte er vor allem vor den Kumpels mit ihr angeben, oder was, verdammich, hatte er sich dabei gedacht, als er mit ihr angebändelt hatte?

„Ich komme jedenfalls nicht mit zu deiner Fußballerfeier“, sagte sie so freundlich-neutral, dass er sie hätte schlagen mögen, was er noch nie getan hatte und niemals tun würde, nicht einmal in volltrunkenem Zustand, „du weißt genau, dass ich zum Fünfjahres-Jubiläum meiner Spezialmaschinenhandlung für heute die halbe Stadt eingeladen habe, seit Wochen reden wir davon, auch wenn ich nicht erwarte, dass du mich begleitest.“

Das war, fand Jean-Marc, eine Provokation zu viel von diesem eingebildeten Weib, und so kramte er mit unsicheren Wurstfingern (nicht jeder konnte schließlich das Zeug zu einem Pianisten haben wie Simones Vater) ihren Wohnungsschlüssel aus der Tasche seiner verbeulten Trainingshose, schmiss ihr ihn vor die Füße und verließ sie grußlos, nicht ohne die Wohnungstür so schwungvoll zukrachen zu lassen, wie sein schwankender Körper es zuließ.

(Mit Dank an Christiane und Anna-Lena, von der als Schreibanreiz diesmal die drei Wörter „Unterhemd“, „knallvergnügt“ und „verzichten“ gespendet wurden, die wie immer in zehn Sätzen zu verarbeiten waren.)

 

 

Über Elke H. Speidel

ist Publizistin und Soziologin und arbeitet als Fachautorin, gelegentlich auch als Schriftstellerin, Lebenswegberaterin oder Wissenschaftslektorin.

Veröffentlicht am 9. Februar 2018 in Allgemein, Kürzestgeschichten, Realismus und mit , , , , getaggt. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. 9 Kommentare.

  1. Wie ist sie denn bloß an DEN geraten? Oder, besser, warum ist sie so lange geblieben?
    Liebe karnevalistisch unverseuchte Grüße
    Christiane 😉

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  2. Sie hat ihm die Initiative überlassen wegzugehen. Hat gedauert, hat schließlich geklappt. Macht die Sache einfacher.
    Im übrigen schließe ich mich Christianes Verwunderung an.

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  3. Klasse! So etwas und so jemanden braucht eine Frau so dringend wie ein Loch im Kopf 😆 !

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