Abendspaziergang

Noch ein Atemzug, und noch einer, und noch einer. Noch ein Schritt, immer nur einer, von Steinplatte zu Steinplatte, jeder Weg besteht aus Schritten, aus vielen Schritten, aber immer nur aus einem auf einmal, so wie ein Atemzug immer allein daherkommt, wie er auch keinen anderen braucht, nicht jetzt, nicht im nächsten Jahr, nicht im nächsten Monat, nur im nächsten Augenblick, und wieder … Ich gehe, und ich werde weiter und weiter gehen, den Weg, den er gegangen ist, und vielleicht werde ich dort ankommen, wo er angekommen ist, aber das weiß ich nicht, niemand weiß es, den ich kenne, denn ich kenne keinen Menschen, der diesen Weg je zurückgekommen ist.

Die Wolken am Dämmerhimmel sehen aus wie Dämonen, wie Federn, wie Schäfchen, wie riesige Wattebäusche, wie mächtige Gebirge, wie die Silhouette einer fremdartigen Stadt und dann wieder nur wie Wolken, windzerfetzt, vereinzelt, schlecht zusammenpassend, Schmutzflecken am Himmel. Welche Farbe hat der Himmel jetzt, seit auch das letzte Sonnenlicht hinter den Hochhäusern verschwunden ist? Er ist nicht mitternachtsblau, oder wenn er es wäre, könnte ich es nicht erkennen hinter all dem fragwürdig bunten Flirren der Großstadtlichter, die ich so geliebt habe, vor vielen Jahren, dass ich mir extra eine Busfahrkarte kaufte, um in die Innenstadt zu fahren und das Rot und Grün der Ampeln, das Weiß der Straßenlaternen, das Neonblau der Leuchtreklamen zu bestaunen.

Noch ein Schritt. Noch ein Atemzug.

„Du musst keine Angst haben“, sagt mein Enkelsohn, „du musst nichts tun, denn irgendwann sterben wir alle. Du musst nur warten, irgendwann wird ein Atemzug der letzte sein, und dann kommst du zum Opa, und später, weißt du, komme ich auch zu euch, und dann sind wir alle wieder zusammen.“

(Mit einem Dankeschön an Christiane für ihre Einladung zu den abc-Etüden, diesmal die Nummer 2 mit den Wörtern „Monat“, „fragwürdig“ und „gehen“, die wie immer in maximal 10 Sätzen unterzubringen waren.)

Über Elke H. Speidel

ist Publizistin und Soziologin und arbeitet als Fachautorin, gelegentlich auch als Schriftstellerin, Lebenswegberaterin oder Wissenschaftslektorin.

Veröffentlicht am 11. Oktober 2017 in Allgemein, Kürzestgeschichten, Realismus und mit , , , , , getaggt. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. 2 Kommentare.

  1. Der Tod, wenn er dann kommt, ist sanft.
    Vielleicht ist das Geborenwerden in die neue Welt nach dem Tod unbeschreiblich schön, wenn wir diese Welt erst mal aufgegeben haben?
    Danke für deine Etüde.
    Liebe Grüße
    Christiane

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  2. Ja, vielleicht. Wir werden es ersterben, irgendwann. Hundertprozentig.

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